Jahresbuch-Trend1977 ist schon besetzt – 1925 hingegen wäre noch frei!
Mit dem Bus zu den Genies: Warum Jahresbücher so enorm erfolgreich sind. Eine Vermutung.

«1924 ist, glaube ich, noch frei», kommentierte jüngst ein Kollege im Netz die Ankündigung eines Buches von Christian Bommarius zum Jahr 1923. 1922 jedenfalls ist nicht mehr frei, das Buch dazu hat der Lyriker Norbert Hummelt vorgelegt. Auch 1926 gibt es schon, das wurde von Hans Ulrich Gumbrecht schon 2001 abgearbeitet – als noch niemand sonst daran dachte, Historiografie in Jahresabschnitte zu portionieren.
Zum Trend wurde diese Form durch den Bestseller «1913» von Florian Illies. Dessen Erfolg verdankte sich nicht zuletzt einem guten Einfall: Am Vorabend des grossen Gedenkens zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 vergegenwärtigte Illies die reiche Kulturwelt von gestern, samt überraschenden Durchblicken ins Heute. Das Friedensjahr 1913 schien auf einmal viel näher an der Gegenwart zu sein als die Katastrophenzeit danach - das späte Kaiserreich als Wohlstandsgesellschaft mit Kunst- und Lebensexperimenten.
Die Serie der Jahresbücher wurde unüberschaubar.
Die Serie der Jahresbücher wurde seither unüberschaubar. Es gibt 1918 und 1919, 1945, 1946 und 1949, 1977 und 1979, 1989 und 1990.
Auf 1913 folgte 1813, 1816 gibt es zweimal (Vulkanausbruch in Tambora, Klimakatastrophe), auch 1517 und 1618 fanden ihre Historiker, dazu kommen eine annalistische Übersicht von 1775 bis 1799 und Ausschnitte von 1932 und 1933. Zum Jahr 1923 erscheint demnächst noch ein halbes Dutzend weiterer Bücher.
Die meisten Darstellungen sind auf Jahrestage ausgerichtet, rechnen mit dem von Jubiläen geweckten Publikumsinteresse. Illies und Gumbrecht waren interessante Ausnahmen, weil sie sich absichtlich nicht solche markanten Jahre aussuchten. Wie bei Illies, aber mit viel höherem begrifflichen Anspruch, stand bei Gumbrechts Probebohrung in die Moderne die Kulturgeschichte im Mittelpunkt.
Der Reiz des Beliebigen
Trotzdem leben auch sie von der Formatierung des historischen Bewusstseins in Jahrestagen, die meist der Selbstvergewisserung dient. Man kann den Trend auch als pädagogische Wendung beschreiben, die wie ein pietistisches Tagebuch funktioniert: Ja damals, bemerkt man beim Blättern, haben wir dieses besonders schlecht und jenes ganz gut gemacht. Historie als Selbstprüfung.
Trotzdem erklärt das nicht den anhaltenden Erfolg der Form. Was ist so reizvoll an Jahresbiografien, dass sie sich heute besser verkaufen als andere Formen historischen Erzählens?
Zunächst ist es eine offene Form, die fast beliebige Füllung erlaubt. Der abgesteckte Zeitraum eines Jahres wird zur Wundertüte, in die alles Mögliche passt, der Friedensschluss, der strenge Winter, der krasse Verkehrsunfall, die Erstpublikation eines Klassikers. Jahresbücher funktionieren wie 365 Tage lange Zeitungen, samt Sportteil und Vermischtem. Das ist bunt und unterhaltend.
Es begrenzt den Stoff aber auch, bei vollkommener Freiheit der Quellenverwendung in gut dokumentierten Epochen. So können Laienhistoriker und Sachbuchautoren beliebiger Professionalität die Forschungsarbeit der Wissenschaft leichthändig ausschlachten. Journalisten werden Historiker und bleiben doch ganz bei sich. Und wo keine eigene Idee ist, richtet es immer noch der Kalender.
Auch ihre innere Form ist fast beliebig modellierbar. Man kann die hektisch voranstürzende Zeit eines Krisenjahres abbilden. Krisen sind beschleunigte Prozesse, statuierte Jacob Burckhardt, das passt zu 1923, 1933 oder 1990. Man kann aber auch sortieren nach Trends, und das Mosaik einer Zeit in fast räumlicher Form konstruieren. Der Clou ist dann die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen oder die Fülle des Neuen auf engem Raum - so haben es Philipp Sarasin und Frank Bösch, beide Historiker, in ihren Büchern zu 1977 und 1979 gemacht, den vielleicht gelungensten in diesem Genre. Philipp Sarasin, Geschichtsprofessor an der Uni Zürich, schlägt in seinem Buch einen eigenwilligen Bogen von Foucault, Esoterik-Bewegung und RAF bis zur digitalen Gegenwart – immer entlang der Frage, wie es so weit kommen konnte, dass wir uns heute weniger an Gemeinsamkeiten orientieren, sondern tief reingesprungen sind in die Kaninchenlöcher der Identität.
Auch der geografische Raum lässt sich beliebig zuschneiden. Um die Zeitungsanalogie zu bemühen: Vom Lokalblatt bis zum Weltblatt ist alles drin. Gleichzeitigkeit hat eine räumliche Dimension, vor allem, wenn weit voneinander entfernte Weltgegenden in den Blick genommen werden wie in «1517» von Heinz Schilling.
«Sollte da nicht ein Zusammenhang sein?»
Die wundersam zusammenstimmende Gleichzeitigkeit lässt fast etwas wie einen geheimen Weltplan aufscheinen: Achsenzeiten und Schwellenjahre! «Ein Mensch stirbt, eine Eule krächzt, eine Uhr steht still, alles in einer Nachtstunde: Sollte da nicht ein Zusammenhang sein?» So karikierte Nietzsche die Magie des Gleichzeitigen und erkannte sie «in verfeinerter Form bei Historikern und Kulturmalern wieder, welche vor allem sinnlosen Nebeneinander, an dem doch das Leben der einzelnen und der Völker so reich ist, eine Art Wasserscheu zu haben pflegen». So entsteht auch eine Sinngebung des Sinnlosen, bei der man sich nicht allzu viel denken muss.
Wer war James Joyce?
Die intellektuelle Unfallgefahr ist in dieser dehnbaren Form hoch. Wie ein Inbild solchen Beziehungszaubers liest sich das Buch von Norbert Hummelt zu 1922 («Wunderjahr der Worte»). Es bespielt die schon oft angesprochene Gleichzeitigkeit einiger Klassiker der modernen Literatur: des «Ulysses» von James Joyce, T. S. Eliots «Waste Land», Rilkes «Duineser Elegien» und seiner Sonette an Orpheus, dazu Romantexte von Marcel Proust und Virginia Woolf. Alles Werke, die 1922 zum Abschluss kamen oder publiziert wurden. Nun waren die grossen Figuren nur wenig miteinander verbunden – Joyce und Proust kannten sich flüchtig, Rilke kannte die anderen gar nicht, Eliot und Joyce lernten sich erst kennen. Folgen für die Werke hatten diese Kaum-Berührungen nicht.
Doch Hummelt spannt sie nach der Manier von Illies zusammen, nur leider ohne dessen Eleganz. In Duino hatte Rilke vor dem Ersten Weltkrieg sogar nahe bei Joyce gewohnt, der damals in Triest lebte. Nur eine halbe Busstunde entfernt!, weiss Hummelt, der diesen Bus offensichtlich genommen hat.
Aber freilich: «Wer war überhaupt James Joyce? Rilke hatte den Namen noch nie gehört? (...) Und wer war Rilke? Joyce hatte den Namen noch nie gehört.» Rilke erinnerte sich also 1922, als er seine zehn Jahre zuvor begonnenen Elegien abschloss – an nichts. Treffpunkte im Unendlichen, für die es keinen Busfahrplan gab.
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