«Als wäre man ansteckend»: Ausgesteuerte erzählen
Wer seinen Job verliert und keinen neuen findet, kann im Teufelskreis landen. Mitten in Winterthur kämpft die Ausgesteuertengruppe Viola gegen Vorurteile und Isolation.

Barbara Heusser ärgert sich, wenn sie Artikel liest, die für den Kanton Zürich einen Rückgang der Arbeitslosenzahlen zeigen. «3,4 Prozent, das klingt nach fast nichts. Aber was ist mit den Ausgesteuerten?», fragt sie. Die Mitarbeiterin der Mobilen Sozialarbeit Subita erlebt eine andere Realität, als sie die freundlichen Zahlen des Amts für Wirtschaft und Arbeit suggerieren: «Immer mehr Personen werden aus dem Erwerbsleben verdrängt. Sind sie einmal ausgesteuert, tauchen sie in der Arbeitslosenstatistik nicht mehr auf.»
Ausgesteuert ist man, wenn der Anspruch auf Arbeitslosentaggelder erlischt. Also, je nach Beitragszeit, nach 9 bis 29 Monaten erfolgloser Jobsuche. Wer dann noch Vermögen hat, muss es aufbrauchen. Wer nichts hat, dem bleibt nur, sich bei der Sozialhilfe anzumelden.
30 000 Fälle pro Jahr
Etwa 30 000 Personen werden schweizweit jedes Jahr ausgesteuert. Zwar schaffen in den fünf Jahren nach der Aussteuerung rund 70 Prozent den Sprung zurück in den Arbeitsmarkt. Doch das oft unter erheblichen Lohneinbussen und in prekären Anstellungen. Tausende schaffen auch das nicht – sie finden weiterhin keine Arbeit und geben die Suche irgendwann auf oder werden durch den Dauerdruck irgendwann krank. Wer «Glück» hat, kriegt eine Invalidenrente. Sie liegt in der Regel etwas höher als der Sozialhilfesatz.
Nicht nur in der Arbeitslosenstatistik tauchen die Ausgesteuerten nicht mehr auf, auch in der Öffentlichkeit weiss man wenig über sie. «Das Thema wird tabuisiert», sagt Sozialarbeiterin Heusser. Auch die Betroffenen sind unauffällig. «Sie sind oft sehr zurückgezogen und isoliert», sagt Heusser. «Viele schämen sich, weil so viel von Sozialhilfemissbrauch die Rede ist. Dabei zeigt sich heute längst: Es kann jeden treffen.»
Die Parallelgesellschaft
Die Ausgesteuertengruppe Viola, die Heusser vor vier Jahren gegründet hat, widerspiegelt das. Sie ist eine der wenigen ihrer Art. Zehn bis zwanzig Personen zwischen 25 und 65 treffen sich monatlich im Nord-Süd-Haus an der Steinberggasse; zusätzlich finden regelmässig selbst organisierte Ausflüge statt. «Ich habe lange gebraucht, hierherzukommen», sagt Dominik (alle Namen geändert). «Erst verdrängst du jeden Gedanken, dass du nicht mehr zu den normal Arbeitenden dazugehörst. Und dann hast du keine Kraft mehr, dir Hilfe zu holen.»
Wer seinen Job verliert, verliere mehr als nur Einkommen, sagt Heusser. «Jede Absage nagt am Selbstwertgefühl. Die Arbeitskollegen entfremden sich. Die Ungewissheit sorgt für Existenzängste. Beziehungen gehen in die Brüche.» Vereinsamung und häufig Depression seien die Folge – eine Negativspirale, die bald auch auf die Gesundheit schlägt.
Dominik, ein lebhafter Mittdreissiger mit Matur, hat aufgrund einer psychischen Erkrankung so oft seine Stelle verloren, dass er irgendwann keine neue mehr fand. Er findet drastische Worte für seine Situation: «Es gibt längst eine Parallelgesellschaft.» Viele der Nicht-voll-Leistungsfähigen hätten sich ganz aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Andere treffen sich an den Mittagstischen der Kirchen und Hilfswerke. «Die Normalarbeitenden wollen nichts mit einem zu tun haben, wenn man eine Weile arbeitslos ist», sagt Dominik. «Es ist, als wäre man ansteckend.»
Konkurrenz aus dem Ausland
Diese Erfahrung machte auch Urs, der mit 54 bei einer Restrukturierung seine Sachbearbeiterstelle in der Buchhaltung verlor und seither erfolglos sucht. «Die ehemaligen Kollegen meiden mich. Ich erinnere sie wohl daran, dass es nur etwas Pech oder eine Sparrunde braucht und es ginge ihnen genauso. Ich habe Ordner voll mit Absageschreiben. In meinem Alter stellt mich niemand mehr ein.»
Die Runde raunt zustimmend. Das Arbeitsleben sei härter geworden, so der Tenor. Erst recht seit mit der Personenfreizügigkeit jährlich Zehntausende junge und gut ausgebildete Mitbewerber in den Arbeitsmarkt strömten. «Es heisst immer, es gebe so viele Jobs», sagt Dominik. «Ja, aber da bewerben sich auch immer Hundert andere. Jüngere, gesündere, billigere.» Bei Viola waren auch schon Menschen dabei, die wenige Jahre zuvor hohe Kaderstellen besetzt hatten.
Ein langsames Verarmen
Bei der Sozialhilfe ist Urs noch nicht angekommen. Vor der Entlassung hatte er auf eine Eigentumswohnung gespart. Jetzt zehrt er von dem angesparten Kapital, langsam, stetig, immer noch ganz der Buchhalter, der er war. Das Schwierigste sei, dass mit der Arbeit auch die Tagesstruktur wegfalle. «Du musst dir selbst eine neue aufbauen, sonst versackst du.»
Stefan, gleiches Alter, hat Ähnliches erlebt. Seine Frau halte bisher zu ihm, sagt er. Die meisten Freunde nicht. «Man hat nichts mehr zu reden, wenn man nicht arbeitet oder konsumiert. Und jeder hat ja seine eigenen Sorgen. Als ich arbeitete, war ich ja auch freitags meist so erschöpft, dass ich den Abend verschlief.»
Von Nachbarn beschimpft
Die Gesellschaft lasse einen genau wissen, was sie von einem hält, der nicht arbeitet, sagt David. «In der Ostschweizer Gemeinde, wo ich wohne, musste ich zweimal umziehen, weil meine Nachbarn in dem Haus mich schikanierten und wegmobbten, als sie herausfanden, dass ich Geld von der IV bekomme. Es hiess, ich sei faul, ein Simulant. Man sieht mir meine Krankheit nicht an.» Er überlege jetzt dreimal, mit wem er offen rede.
Selbst seine Familie habe sich von ihm abgewendet. «Von meinem Bruder haben meine Eltern Bilder auf dem Klavier. Mit mir haben sie den Kontakt abgebrochen.» Eine Freundin zu finden? «Das funktioniert fast nicht», sagt Dominik. «Wenige kommen damit zurecht, dass ich sie nie einladen kann, oder sie genieren sich vor ihren Freunden und ihrer Familie für mich.» Dominik vergleicht die Situation von Langzeitarbeitslosen und Sozialhilfebezügern mit den «Unberührbaren» im indischen Kastensystem.
Immer weiterrennen
Relativ frisch in der Runde ist Rolf, über 50, gebräunt, tätowiert. Ein Büezer, der nie eine Lehre abgeschlossen hat. Er fing direkt nach der Schule an, im Lager zu arbeiten, war zuletzt Logistikleiter. Als zwei Standorte zusammengezogen wurden, war er überzählig. Seither sucht er. «Auf meinem Beruf kannst du es mit über 50 quasi vergessen», resümiert er.
Aber Rolf will kämpfen, hat einen Plan B. «Ich lasse mich zum Fitnesstrainer ausbilden», sagt er. «Ich habe immer viel Sport gemacht. Rennen ist für mich so natürlich wie atmen. Ich glaube, ich bin auch deshalb noch so gut beisammen, weil es mir körperlich gut geht. Schreib das.» Es entsteht eine laute Diskussion darüber, ob sich eine Einzelperson vom Sozialhilfegeld überhaupt gesund ernähren könne. Regelmässig frische Früchte und frisches Gemüse liegen nicht drin, sagen viele.
Prekäre Jobs und Mobbing
Doch auch wer wieder eine Anstellung findet, ist nicht einfach fein raus. Manuela kennt die Realitäten im Billigjobsektor zur Genüge. Nach eigenen Angaben hat sie schon in über dreissig Betrieben gearbeitet, oft in Callcentern. Ein Job, der wegen seiner Niederschwelligkeit auch von der Regionalen Arbeitsvermittlung (RAV) gerne vermittelt wird. «Ich arbeite hart, aber ich wurde immer wieder rausgemobbt», sagt sie. «Auch wegen meiner Herkunft.» Sie findet, es müsste eine Stelle eingerichtet werden, welche nicht nur die Opfer von Mobbing betreut, sondern in den Betrieben nachforscht und schlichtet, wo gemobbt wird. Sonst ändere sich nie etwas. Doch sie sei ein Stehaufmännchen, sagt Manuela. Sie probiere es immer wieder.
Ein seltenes Wirgefühl
Über die letzten Jahre ist aus der Viola-Gruppe ein Kreis geworden, in dem auch über sehr persönliche Themen offen gesprochen (und gestritten) werden kann. Heusser steht auf Wunsch für Rat bei praktischen Problemen bereit. Der Austausch bei Gratiskaffee und kuchen ist aber mindestens genauso wichtig für Menschen, von denen manche sich das Geld fürs Tierfutter wörtlich vom Mund absparen.
«Es tut gut, unter Gleichgesinnten reden zu können», sagt Dominik. Ein Grossteil der Ausgesteuerten erduldet ihr Schicksal ohne soziale Kontakte, zurückgezogen. Bei Viola trifft man sich wieder für Wanderungen. Ein Gruppenmitglied schreibt Veranstalter kultureller Anlässe an. Dank deren Grosszügigkeit konnten die Mitglieder Freilichtspiele fast gratis geniessen.
«Wer täglich daran erinnert wird, welche Schwächen er hat, verlernt irgendwann, dass er überhaupt Stärken hat», sagt Sozialarbeiterin Barbara Heusser. Ihre Hoffnung ist, neben der Stärkung der Betroffenen, auch das Verständnis in der restlichen Bevölkerung zu verbessern. «Das moderne Arbeitsleben sortiert immer mehr Menschen aus», sagt sie. «Gerade wenn Schicksalsschläge zusammenkommen, kann es jeden von uns treffen.»
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