
Als das «alte Europa» beschimpfte der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Anfang 2003 Deutschland und Frankreich. Der neokonservative Falke suchte damals Verbündete für seinen Krieg im Irak. Doch die beiden kontinentaleuropäischen Mächte Deutschland und Frankreich verweigerten sich dem amerikanischen Drängen.
Damals war ich stolz auf dieses alte Europa, zu dem gewissermassen auch die Schweiz gehörte. Trotz aufgeheizter Stimmung nach den Anschlägen von 9/11 liess man sich von US-Präsident Bush und seinem Verteidigungsminister nicht unter Druck setzen. Während Briten, Niederländer, Dänen und insbesondere die Staaten Osteuropas die sogenannte «Koalition der Willigen» bildeten und sich mit Truppen am Irakkrieg beteiligten. Ein Krieg, der bis zum Ende der Besatzung Hunderttausende Menschen das Leben kosten sollte.
Im Ukraine-Krieg ist es nun gerade andersrum: Es ist das «neue Europa», das beeindruckt. Die Bereitschaft der baltischen Staaten, Polens oder auch der Slowakei, mit aller Kraft die Ukraine in ihrem Kampf gegen den russischen Aggressor zu unterstützen, ist ebenso mutig wie bewundernswert. Osteuropa kennt die Folgen von Unterwerfung aus der eigenen, leidvollen Geschichte. Hier weiss man, dass Appeasement kein Mittel gegen Grossmachtstreben ist.
Historisch verankerte Denkmuster
Ob zum Guten oder zum Schlechten – es sind auch historisch verankerte Denkmuster im Umgang mit Waffen und Krieg, welche einst die Reaktionen auf den Irakkrieg prägten und nun jene auf den Ukraine-Krieg prägen. So stellte sich Deutschland damals unter Kanzler Schröder mit viel Courage den amerikanischen Kriegstrommeln entgegen. Und dasselbe Deutschland hadert nun kleinmütig mit der Lieferung schwerer Waffen zur Selbstverteidigung der Ukraine. Der Irak-Held Schröder ist als Putins Vasall zu einer der jämmerlichsten Figuren des Westens geworden.
Gerade jetzt zeigen sich die Grenzen der deutschen pazifistischen Kultur.
Während in den USA und Grossbritannien der Zweite Weltkrieg auch als Erfolgsgeschichte im kollektiven Gedächtnis verankert ist, endete er für Deutschland mit einer verheerenden Niederlage. Daraus ist eine besonders kriegskritische Mentalität erwachsen. Das ist ein enormer Fortschritt und Segen, doch zeigen sich gerade jetzt die Grenzen der deutschen pazifistischen Kultur. Die Konfliktforschung hat die Maxime, mit der sich Frieden langfristig am besten sichern lässt, nämlich längst gefunden. Sie heisst: Sei stets eine Taube – doch reagiere wie ein Falke, wenn Falken attackieren.
Wir brauchen die Gabe, situativ zu handeln, statt in den immer gleichen Reflexen zu verharren. Zu verharren wie jene, die sich stets von der dunklen Seite der Macht angezogen fühlen, wie Roger Köppel, der den amerikanischen Angriff auf den Irak begrüsste und nun Verständnis für Putin aufbringt. Oder wie die demonstrativ Friedliebenden – zum Beispiel Alice Schwarzer oder Jürgen Habermas –, die sich 2003 mit heller Empörung gegen den amerikanischen Imperialismus stellten und nun im Angesicht des russischen Imperialismus zu Zurückhaltung mahnen.
Baerbock und Lang verdienen Respekt
Weit mehr Respekt verdienen Persönlichkeiten wie die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock oder der Schweizer GSoA-Vordenker Josef Lang, die beide bereit sind, ihre Positionen zu hinterfragen, wenn es die Situation verlangt. Die Haltung zu Waffen und Krieg ist auch durch historisch verankerte Denkmuster geprägt, wie das anhaltende Spannungsfeld zwischen dem «alten» und dem «neuen» Europa zeigt.
Und Russland hat unter Putin das Falkenhafte richtiggehend kultiviert. Er vermutet überall Aggressivität und begründet so die eigene Aggression. Und doch zeigt gerade das Beispiel Deutschlands und seiner Demütigung und späteren Wiedereingliederung nach dem Zweiten Weltkrieg, dass auch eine grundlegende Neuprogrammierung des kulturellen Gedächtnisses möglich ist. Auch deshalb braucht es nun Widerstandskraft – damit eine solche Neuprogrammierung irgendeinmal auch in Russland möglich ist.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Kolumne von Michael Hermann – Altes Europa, neues Europa
Deutschland hadert kleinmütig mit der Lieferung schwerer Waffen zur Selbstverteidigung der Ukraine. Wir brauchen die Gabe, situativ zu handeln, statt in den immer gleichen Reflexen zu verharren.