
Noch ist die Tür zu einem neuen Vertrag mit der EU nicht zugeschlagen worden. Aber der aktuelle Entwurf stellt uns Schweizerinnen und Schweizer vor eine Wahl zwischen Pest und Cholera: Ein Ja würde uns starke politische Einschränkungen bringen, ein Nein dagegen erhebliche wirtschaftliche Nachteile. Präzisierungen zum Vertrag würden die Voraussetzung einer Einigung schaffen. Leider wird die Stärke dieses Ansatzes in der Schweiz verkannt und daher kaum diskutiert.
Die EU lässt Präzisierungen zu den eigenen Abkommen häufig verfassen, da ihr eine einheitliche Auslegung und Anwendung derselben im ganzen europäischen Binnenmarkt wichtig ist. Auch die Auslegung des Rahmenabkommens kann auf diese Art präzisiert werden, und einschneidende Passagen können dank der positiv formulierten gemeinsamen Interessen entschärft werden.
Beispielhaft ist die Regelung der Kaution, die von europäischen Dienstleistungserbringern in der Schweiz hinterlegt werden muss. Als übergeordnetes Ziel und damit als gemeinsames Interesse beider Parteien wird im Rahmenabkommen die vollumfängliche Garantie der Arbeitnehmerrechte bezeichnet. Die EU kennt in ihrem Binnenmarkt keine Kaution und möchte diese neu nur bei Firmen zulassen, die in der Vergangenheit Verstösse begangen haben. Die Schweiz möchte unbedingt eine Kaution zum Schutz vor Lohndumping. Als Kompromiss könnte präzisierend festgelegt werden, dass die Schweiz bei einem Konflikt mit dem übergeordneten Ziel die Kaution in begrenztem Umfang wieder aufbauen dürfte.
Gegenseitig vereinbarte Präzisierungen sind ein Ansatz, mit dem sich die Schweiz gegen Risiken des Rahmenabkommens absichern kann.
Mögliche Präzisierungen im Rahmenvertrag lassen sich an drei Brennpunkten aufzeigen:
Die EU verlangt, dass staatliche Beihilfen den Wettbewerb nicht verfälschen dürfen und mit dem europäischen Binnenmarkt vereinbar sein müssen. Explizit zugelassen werden jedoch staatliche Beihilfen im Falle einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben oder zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder -gebiete. In diesem von der EU gesteckten Rahmen kann die Schweiz ihre staatlichen Beihilfen für die Kantonalbanken und die Landwirtschaft präzisieren und dadurch legalisieren. Dazu hatte die EU bereits am Spitzengespräch im April 2021 dem Bundesrat ihr Einverständnis signalisiert. Damit würden Streitigkeiten bezüglich der Auslegung und unvorhersehbarer Urteile des Europäischen Gerichtshofes wirkungsvoll verhindert.
Beim Lohnschutz garantiert die EU der Schweiz die vollumfänglichen Arbeitnehmerrechte, verlangt aber im Gegenzug «gerechte» Bedingungen für die freie Erbringung von Dienstleistungen durch alle Teilnehmenden des Binnenmarktes. Sie verspricht mit dem Binnenmarkt-Informationssystem eine Erhöhung der Wirksamkeit der Kontrollen vor Ort und fordert im Gegenzug eine Reduzierung der Intensität derselben. Damit fordert sie die Schweiz zur Reduzierung des Aufwandes und der sich daraus für beide Seiten ergebenden Unkosten auf. Mit einer Prise Motivation könnte die Schweiz so ein wirksames und kostengünstigeres System aufbauen.
Beim Schiedsgericht scheinen Präzisierungen komplexer, da der Handlungsspielraum problematisch ist. Ein Mitglied des Schiedsgerichts kann zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens den Europäischen Gerichtshof EuGH anrufen. Ohne Präzisierung ist es also möglich, dass das Schiedsgericht alle Fragen eines Streitfalles zuerst klärt und die europäische Seite dann den bereinigten Streitfall postwendend an den EuGH weiterleitet. Ohne klar festgelegten Handlungsspielraum können die hohen Kosten eines Schiedsgerichts niemals gerechtfertigt werden. Allein schon deshalb kann die Schweiz auf Präzisierungen nicht verzichten.
Gegenseitig vereinbarte Präzisierungen sind ein Ansatz, mit dem sich die Schweiz gegen Risiken, die sich aus dem Abschluss des Rahmenabkommens ergeben, wirksam absichern kann. Eine praktikable Lösung ist demnach vorhanden, der Bundesrat müsste sie nur umsetzen.
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Gastkommentar zum Vertrag mit der EU – Das Rahmenabkommen ist ein Risiko – aber ein kalkulierbares
Die EU bietet an, über Präzisierungen zu verhandeln. Das ist ein starker Hebel. Der Bundesrat müsste ihn nur nützen.