«Der Luxus in den Spitälern ist grotesk»
Die ehemalige Chefärztin der Frauenklinik Triemli engagiert sich neu für den Patientenschutz. Das sei kein Seitenwechsel, sagt Brida von Castelberg.

Im Zürcher Café Odeon wird Brida von Castelberg erkannt. Die Fachärztin für Chirurgie, Gynäkologie und Geburtshilfe stand bis 2012 fast 20 Jahre lang als Chefärztin der Frauenklinik Triemli vor. Sie ist bekannt dafür, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Eigentlich sei sie keine grosse Café-Gängerin, sagt die 64-Jährige. Wenn, dann gehe sie aber ins Odeon. Hier habe sie als Kind ihren ersten Kaffee getrunken, eine Schale Gold. Das habe sie sehr beeindruckt, sagt die Frau mit den kurzen Haaren und den markanten langen Ohrringen und lacht schallend. Heute trinkt Brida von Castelberg Minztee und spricht nicht über ihre Karriere als Ärztin, sondern ihr Engagement für die Schweizerische Stiftung SPO Patientenschutz. Im letzten November wurde sie in den Vorstand und als Vizepräsidentin gewählt.
Seit Ihrer Frühpensionierung ist man bei Ihnen wohl Schlange gestanden mit Projekten, für die Sie sich engagieren könnten.Brida von Castelberg:Nein, ich wurde fast zu sehr in Ruhe gelassen. Weil ich klar und deutlich Stellung beziehe, hatten manche wohl Angst vor mir.
Warum setzen Sie sich für den Patientenschutz ein?Weil ich das für eine sehr gute Institution halte. Sie hat das Image ärztefeindlich zu sein, was sie aber eigentlich nicht ist. Nun hatte ich als Ärztin die Möglichkeit, im Vorstand mitzumachen, das sollte auch bei der Ärzteschaft etwas auslösen.
«Auch für Mediziner sollte der Patient, dessen Rechte und Genesung im Zentrum stehen.»
Sie sind die erste Ärztin als Vizepräsidentin. Ist das ein Seitenwechsel?Nein, für mich nicht, denn eigentlich sollte auch für Mediziner der Patient, dessen Rechte und Genesung im Zentrum stehen.
Warum ist das oft nicht so?Das ist mir ein Rätsel. Ärzte sind ja selber auch Menschen und Patienten und profitieren nur von zufriedenen Patienten.
Wie können Ärzte das Verhältnis zum Patienten verbessern?Im Medizinstudium wird etwa der Arzt-Patienten-Dialog gelehrt mit Schauspielern, die schwierige Patienten spielen.
Was ist ein schwieriger Patient?Es gibt diejenigen, die nicht zuhören, die in der Tasche wühlen oder das Handy abnehmen. Oder diejenigen, die immer nörgeln, und die Überinformierten.
Sie haben ein Buch geschrieben über die Beziehung zwischen Arzt und Patient. Ein Punkt ist der Fachjargon. Warum fällt es Ärzten immer noch so schwer, darauf zu verzichten?Weil sie nicht mehr anders können. Die Literatur ist Fachjargon, alles, was sie schreiben, ist Fachjargon, Fortbildungen sind im Fachjargon. Um auf den Fachjargon zu verzichten, muss man fähig sein, sich in andere Menschen hineinzudenken. Wie denkt eine Tramchauffeuse oder ein Bauer oder jemand aus einem anderen Kulturkreis?
Wie lernt man das?Im Triemlispital hatten wir eine Psychologin und eine Sozialarbeiterin dabei auf der Visite. Dann lernt man von Vorbildern, dem Oberarzt oder dem leitenden Chef. Aber es braucht natürlich ein Ohr dafür.
Gerade ältere Patienten schätzen die «Halbgötter in Weiss». Ist das eine überholte Haltung?Auf dem Land ist es eher so, dass man darauf vertraut, was der Doktor sagt. Für einen Arzt ist das angenehm, weil die Überzeugungskraft von Anfang an gegeben ist. Bei der Geburtshilfe und in der Stadt haben wir ein sehr kritisches Publikum. Bei der Geburt gibt es allerdings die schöne Überzeugungskraft des Faktischen: Wenn die ersten Wehen kommen, ist alles anders, als man es sich vorgestellt hat (lacht).
"Die Ärzte wollen alles richtig machen"
Wie ist es bei Krebsdiagnosen? Da hat man wohl sehr hohe Erwartungen an den Arzt.Gerade bei der Krebstherapie gibt es diesen Machbarkeitswahn. Stattdessen müssten Ärzte den Patienten Alternativen aufzeigen, was passiert, wenn man Behandlungen nicht macht. Es ist natürlich ein Unterschied, ob man einen 40-Jährigen vor sich hat mit kleinen Kindern und Beruf, oder eine 80-Jährige, für die eine Chemotherapie eine Belastung ist. Sie möchte vielleicht eher gute Schmerzmittel und muss sich dafür nicht übergeben. Aufklärung ist da sehr wichtig.
Woher kommt dieser Machbarkeitswahn?Die Ärzte wollen es richtig machen. Es ist nicht nur die Tatsache, dass ein Spital mit den Therapien mehr Geld verdient – auch wenn dies immer mehr in den Vordergrund rückt. Die Ärzte wollen es so machen, wie es empfohlen wird.
Immer mehr Patienten verklagen Ärzte, weil sie zu wenig gemacht hätten.Da braucht es eine gute Dokumentation. Wenn man jemanden nicht operiert, sondern mit Medikamenten behandelt, muss man vermerken, dass man mit dem Patienten pro und contra besprochen hat. Klagen gibt es häufig, weil die Patienten nicht richtig aufgeklärt wurden. Dann ist das der Fehler des Arztes. Aber es ist immer noch schwierig, einen Arzt rechtlich zu belangen.
Müssen in der Arzt-Patienten-Beziehung auch die Patienten dazulernen?Patienten sollten früher zur Patientenorganisation kommen. Meist wenden sie sich erst an die SPO, wenn sie das Gefühl haben, etwas lief nicht korrekt. Aber sie sollten kommen, bevor sie sich für etwas entscheiden, um zu wissen, was es für Alternativen gibt und was das für ihre Lebenssituation heisst.
"Patienten sollten früher zur Patientenorganisation kommen"
Ist dies ein Thema, das Sie im Patientenschutz angehen möchten?Ja, denn ich habe das Gefühl, in der Medizin wird zu viel abgeklärt und zu viel behandelt. Mit dem Patientenschutz möchte ich das verhindern, indem man die Leute berät, bevor sie etwas machen lassen. Ich habe einen Freund, der joggt zweimal pro Woche, fährt Ski und sagte mir kürzlich, er brauche Knieprothesen an beiden Knien. Ich sagte ihm, du bist doch kein Velo! Das ist doch kein Pneuwechsel, das sind riesige Operationen mit Risiken. Aber der Orthopäde habe ihm gesagt, dass müsse jetzt sein.
Dass zu viel behandelt wird, ist eine Auswirkung des Tarifsystems, wonach einzelne Diagnosen und Eingriffe vergütetwerden.Das liegt am Abrechnungssystem und an der entsetzlichen Tatsache, dass die Kliniken im Wettbewerb miteinander stehen. Dabei ist eine öffentliche Klinik eine soziale Institution, weshalb müssen die dauernd ausbauen und attraktiver werden? Dann hat man nur noch Einzel- und Zweier-Zimmer, die luxuriöser sind als bei den meisten Patienten zuhause. Aber faktisch beeinträchtigt das die Pflege. In den 3er- oder 4er-Zimmern war praktisch immer eine Pflegerin dort und ein Dialog entstand. Dem heutigen Servicepersonal, das das Essen bringt und holt, ist es egal, ob ein Patient gegessen hat oder nicht.
Spitäler sagen, dass das von den Patienten gewünscht werde.Ja, solange man in den Umfragen fragt: Waren Sie zufrieden mit dem Essen und dem Zimmer? Wenn man aber fragt, was ist Ihnen wichtiger, gutes Essen oder gute Pflege? Dann müssen wir nicht darüber diskutieren. Der Luxus ist grotesk und kostet einfach zu viel. Im Prinzip müsste man nicht einmal das Essen über die Kasse abrechnen. Gewisse Leistungen gehören in den Katalog und anderes gehört ins Luxussegment und sollte separat bezahlt und versichert werden.
«Wer auf eine teure Krebstherapie verzichtet, sollte einen Monat Haiti bezahlt bekommen.»
Wo ziehen Sie die Grenze?Ich finde Check-ups als Vorsorge etwas vom Dümmsten. Dass ich gegen das Mammografie-Screening bin, ist bekannt. Es gibt auch viele Medikamente, die man ausschliessen sollte. Oder braucht ein 90-Jähriger den teuersten Herzschrittmacher, der 20 Jahre hält? Ich fände es fair, wenn man Patienten vorschlägt: Wenn sie auf eine wenig effiziente, teure Krebstherapie verzichten, erhalten sie einen Monat in Haiti bezahlt, weil sie für das Gesundheitswesen gespart haben. Wenn schon Anreize, dann etwas, das einem Freude macht (lacht).
Sie sind über Fachkreise hinaus bekannt und wurden letztes Jahr von der Schweizer Illustrierten sogar als eine der wichtigsten Zürcherinnen gewählt. Was bringt Ihre Prominenz dem Patientenschutz?Vielleicht ein paar Mitglieder mehr. Ich finde, jeder sollte Mitglied werden beim Patientenschutz, denn man weiss nie, wann man selber zum Patienten wird. Schliesslich setzt sich die Stiftung für uns alle ein.
Wäre die Nachfolge von Margrit Kessler für Sie ein Thema, wenn sie als Präsidentin zurücktritt?Nein, es braucht dort jemanden, der politisch vernetzt ist. Ich habe keine Ambitionen Politikerin zu werden und auch nicht Präsidentin. Als Vizepräsidentin habe ich eine gute Rolle. Denn es macht mir Freude, zu sehen, wie engagiert die Stiftung trotz wenig Geld arbeitet.
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