«Die Erinnerungen wird man nie los»
Die letzten Holocaustüberlebenden der Schweiz erzählen ihre Schicksale. Die bewegenden Bilder und filmischen Kurzporträts sind bis 3. Juni im Archiv für Zeitgeschichte zu sehen.

Wie sie als Elfjährige von Theresienstadt nach Auschwitz gebracht wurde, weiss Nina Weil noch ganz genau: «Unsere Viehwaggons kamen in der Nacht an. Es gab ein fürchterliches Geschrei, grelles Licht, und die Deutschen hetzten ihre Schäferhunde auf uns.» Vor denen fürchtet sich die 85-Jährige heute noch, wie sie gestern im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich erzählte. Am Dienstag, 2. Mai, eröffnet dort die Ausstellung «The Last Swiss Holocaust Survivors», wofür der Fotograf Beat Mumenthaler und der Regisseur Eric Bergkraut Nina Weil und ein Dutzend weitere Schweizer Holocaust-Überlebende in Bildern und Kurzfilmen porträtierten.
Die Nummer 71978
Nina Weil wurde im Konzentrationslager alles weggenommen und die Haare geschoren. Sie musste ihren linken Arm hinhalten und bekam die Nummer 71978 eintätowiert. «Ich habe schrecklich geweint – nicht wegen der Schmerzen, sondern weil ich nicht verstand, warum ich so etwas Hässliches auf der Haut haben sollte.» Ihre Mutter beruhigte sie: Sobald sie wieder in Prag seien, bekäme sie Tanzstunden und ein so breites Armband, dass niemand die Tätowierung sieht. «Beides ist nie passiert.»
Beat Mumenthaler will Authentizität und Nähe zeigen in seinen Bildern: «Alle tragen wir unsere Geschichte im Gesicht.» Am meisten berührt hätten ihn aber die Interviews, die Eric Bergkraut geführt hat. «Es war ein Privileg, diesen Menschen begegnen zu dürfen», sagt dieser. Die Arbeit für die Ausstellung zeigt, wie sehr die Zeit drängt: Einer der Interviewten, Klaus Appel, ist vor zwei Wochen gestorben. «Er sagte mir zum Abschied: ‹Wir werden uns wohl nie mehr sehen›», sagt Bergkraut. Er habe ihm geantwortet: «Stimmt, wir haben uns nur einmal getroffen – dafür aber richtig.»
"Ich ging jeden Tag vorbei und wischte ihr den Schnee vom Gesicht"
Nina Weil besuchte ihre Mutter in der Baracke zwischen den Appellen. Eines Tages, als sie ihr einen Kaffee brachte, merkte sie, dass sie nicht mehr sprach und nicht mehr atmete. «Die Frauen brachten sie hinter den Block, wo sie etwa zehn Tage lag. Ich ging jeden Tag vorbei und wischte ihr den Schnee vom Gesicht. Erst als sie eines Tages nicht mehr da war, begriff ich, dass sie gestorben war, und ich jetzt ganz allein.»
Er wog nur noch 27 Kilo
Konzipiert wurde die Ausstellung von der Gamaraal Foundation, die sich für bedürftige Holocaustüberlebende und Holocaust Education engagiert. Dies vor dem Hintergrund, dass die Schweiz diesen Frühling den Vorsitz der International Holocaust Remembrance Alliance übernimmt. Die Ausstellung wird unterstützt von Stiftungen, Kantonen, Bundesämtern und der Stadt Zürich und wird noch in weiteren Schweizer Städten zu sehen.
Als der 16-jährige Eduard Kornfeld 1945 von den amerikanischen Truppen in Dachau befreit wurde, wog er nur noch 27 Kilo und litt an beidseitiger Lungentuberkulose. «Von meiner achtköpfigen Familie überlebten nur ich und ein Bruder. Meine Eltern und meine vier jüngeren Geschwister wurden ermordet – nicht umgebracht, ermordet», sagt Eduard Kornfeld mit aufgebrachter Stimme.
"Macht nicht mit beim Mobbing, hinterfragt alles und bekämpft das Schlechte."
«Die Geschichten der Überlebenden zeigen, dass der Holocaust nicht unbeschreibbar ist», sagt Gregor Spuhler, Leiter des Archivs für Zeitgeschichte. «Die Schicksale der Kinder und Jugendlichen sind Mosaiksteine, ergeben in der Summe aber keine Erklärung.» Dafür müssten auch Täter, Zuschauer und politische Situation betrachtet werden. Die Jugendlichen von heute hätten oft ein falsches Bild, sagt Spuhler. Sie sähen Hitler als einzigen Täter und nur die Gaskammern als Resultat. Die Ausstellung rufe ins Bewusstsein, welche Gefahren drohen, wenn sich Nationalismus und Rassismus mit der Infragestellung von Grundprinzipien der Demokratie verbinden. Für die historische Einbettung, bietet sein Team Führungen durch die Ausstellung an. Vor allem Schulklassen zeigten Interesse, bereits 20 hätten sich bisher angemeldet.
«Die Erinnerungen wird man nie mehr los», sagt Eduard Kornfeld, «und im Alter treten sie stärker hervor.» Ihm ist es ein Anliegen, der heutigen Jugend die Botschaft mitzugeben, keine Mitläufer zu sein: «Macht nicht mit beim Mobbing, hinterfragt alles und bekämpft das Schlechte.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch