Interrail-Boom«Die Landschaft war besser als Netflix»
Schwarzwald, Schottland, Schwarzes Meer: Wie ein junggebliebenes Paar und eine junge Bahnsinnige per Interrail zu sich selber fanden. Und zum besten Hamburger der Welt.

Dominique Tellenbach hatte an alles gedacht. Auch daran, dass es vielleicht langweilig werden könnte unterwegs. Immerhin trat er im Herbst 2021 mit seiner Gattin Pascale eine 13-tägige Interrail-Reise an, die aus der Schweiz in langen Bahnstunden weit ostwärts führen sollte: über Österreich und Bratislava bis nach Ungarn, Bulgarien und Rumänien.
Für allfällige Langeweile auf der Zugreise hatte der 50-jährige Schulleiter vorgesorgt: «Vor der Abreise lud ich ein paar Netflix-Serien auf mein iPad», erzählt Tellenbach. Doch auf der Reise hatten die Videos dann keine Chance mehr gegen den Bilderstrom vor dem Bahnfenster: «Es gab so viel zu sehen unterwegs. Die Landschaft war besser als Netflix.»

Ziemlich viel Landschaft: 4500 Kilometer insgesamt, vom Schwarzwald bis ans Schwarze Meer, wie es die selbst gewählte Reiseroute-Alliteration vorgab. Und dann vom Schwarzen Meer wieder zurück nach Basel: «Mal im Plüschwagen, mal auf Holzbänken», sagt Pascale Tellenbach, 48. «Eine Reise so ganz anders als im Flugzeug, ein unheimlich schönes Erlebnis, das Zeit lässt für Landschaft und Lesen, für Land und Leute.»
Und für eine unerwartete Entdeckung an einem Ort, der vor der Abreise auf der Reisekarte keine Rolle gespielt hatte, erinnert sich Dominique Tellenbach: Mitten in der ungarischen Pampa, im Städtchen Békéscsaba, begegnete er in einer Imbissbude einer Symphonie aus Fleisch und Brot und Innenleben, die er heute noch als «besten Hamburger der Welt» bezeichnet.
Jugendstil-Casino als Enttäuschung
Bevor es dann per Signalglocken-Bummelzug ins rumänische Salonta weiterging, wo das Schweizer Paar in einem verwitterten Wildwest-Bahnhof ankam. Weniger filmreif war die Ankunft am Schwarzen Meer. Schon von Basel aus war die rumänische Hafenstadt Constanza zum Fixpunkt der Interrail-Reise wegen des dortigen historischen Jugendstil-Casinos erkürt worden. Doch als die Tellenbachs ankamen, wurde das örtliche Bild von Regen, Wind und Wolken bestimmt. Das schon am Rheinknie ersehnte Casino: von einem Baugerüst verdeckt.
Graue Monotonie am Schwarzen Meer – nicht eben das, was man vom ersehnten ikonischen Interrail-Reiseziel erwartet. Für das Basler Paar kein Problem – sondern eine Erinnerung mehr an einen Schienen-Trip der ebenso gemächlichen wie praktischen Art. Ein kontemplatives Raile mit Weile, das sich mit dem Europa-Abo unkompliziert abzuckeln lässt.

Für Pascale Tellenbach war es die erste Interrail-Erfahrung; Gatte Dominique Tellenbach war in seiner Jugend zweimal mit dem Europa-Pass en route. Einer der grossen Unterschiede zur damaligen Zeit sieht der Interrail-Repeater in der Technologie: «Früher fuhr man ahnungslos herum, musste sich an Tafeln und Schildern schlau machen, war oft im Ungewissen über Fahrpläne, Öffnungszeiten von Jugendherbergen und Bahnzuschläge.»
Statt der analogen Zeit eine Träne nachzuweinen, rühmt Tellenbach die Vorteile des iPhone-Zeitalters: All das, was ausserhalb der Bahnfahrt zu koordinieren sei, lasse sich heute per Interrail-App viel schneller, einfacher und verlässlicher regeln. Was dazu führe, so Tellenbach, «dass man sich weniger mit Organisatorischem herumschlagen muss und so vor allem das tun kann, was Interrail ausmacht: die Reise geniessen.» 19 Jahre alt war Tellenbach, als er Europa erstmals per Bahn-Abo entdeckte, in einer Zeit vor Whatsapp, Tripadvisor, Google Earth und – falls einmal wirklich Langeweile herrschen sollte – Netflix. Würden der Schulleiter und die Pharma-Angestellte künftig wohl Nein sagen zum iPad auf Bahnreisen, sagen sie zum Reisemodus Interrail: «Jederzeit wieder.»
Auf Grosis Spuren
Jederzeit wieder Interrail – Damaris Isenschmid sagt das nicht nur, sie macht es. Ende April war die 22-jährige Thuner Hostel-Réceptionistin schon auf ihrer sechsten Interrail-Reise. «Weil», sagt Isenschmid, «lange Bahnfahrten für mich Entspannung bedeuten.» Ein Valium, das auch mal ziemlich lange anhält. 15 Stunden und 43 Minuten dauerte im April die Anreise von Thun nach Edinburgh.
Der Auftakt einer Schottlandreise, welche die junge Berner Oberländerin auf den Spuren einer familieninternen Vor-Fahrerin bahnwandeln liess: «Meine Grossmutter war 1979 per Britrail-Pass unterwegs», erzählt Isenschmid. «Anhand ihrer Reisenotizen fuhr ich einen Teil ihrer Route nach.» Edinburgh, Inverness, Isle of Skye – auf Grosi-Tour in Schottland.

Schon vier Notizbücher gefüllt
Isenschmid hält ihre Bahnerlebnisse in Notizbüchern im Format A5 fest. Seit die Bernerin im Herbst 2019 zu ihrer ersten Interrail-Reise aufbrach – per Zehntages-Pass bis ins norwegische Levanger –, hat sie schon vier A5-Bücher gefüllt. «Bahnreisen», sagt Damaris Isenschmid, «geben mir Zeit, emotional anzukommen. Fliegen ist einfach nicht das gleiche Erlebnis. Von Basel nach Edinburgh in einem Chlapf – da kommen Kopf und Seele nicht nach.»
Die junge Frau schreibt nicht nur über Interrail-Reisen. Sie berichtet auch zweimal monatlich auf ihrem Interrail-Podcast «Freiheit auf Schienen» darüber. Nicht als Pufferküsserin, die mit anderen Bahnfreaks Detailwissen über Rollmaterial und Spurbreiten teilen will. Sondern als jemand, der «einfach gerne Zug fährt. Nur schon wegen der Erlebnisse und meines Vorsatzes, in Europa keine Kurzstrecken mehr zu fliegen.» Darüber hinaus lebt Isenschmids Podcast von Originaltönen, welche die unheilbar Bahnsinnige unterwegs einfängt, von Packlistentipps, Ratschlägen zur Reiseplanung oder Budgetkniffs für Interrail-Willige.
Damaris Isenschmids persönliche Interrail-History ist bemerkenswert. Mit nur 22 Jahren war sie neben Nordeuropa und Schottland schon in Österreich und Ungarn unterwegs, dazu in Italien, Slowenien, England und Holland. Die Saga der 33 Länder, die sich per Interrail-Pass bereisen lassen, hört bei Isenschmid eigentlich nie auf. Nicht, wenn sie aus dem Zug aussteigt. Und auch dann nicht, wenn sie das Podcast-Mikrofon längst abgedreht hat.
Wenn die Touristikerin Dienst hat an der Réception der Backpackers Villa Sonnenhof in Interlaken, kann es gut sein, dass sie Gäste beim Einchecken fragt, wie sie angereist seien. Oft genug, man ahnt es, sind sie per Interrail unterwegs – und Isenschmid hat Gesprächsstoff, der über das übliche Réceptionsvokabular hinausgeht.

Was Interrail-Fan Isenschmid sehr bedauert: «Es wäre genial gewesen, wenn meine Grossmutter noch am Leben wäre, dann hätte ich sie nach ihrer Schottland-Bahnreise fragen können. Leider ist sie aber vor vier Jahren im Alter von 91 Jahren verstorben. Sie war immer viel unterwegs und reiste in den 50er-Jahren allein bis nach Amerika.». Zwar nicht auf Schienen, aber auf geringer Flughöhe: «Per Schiff.»
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