
Es ist legitim, die EU zu kritisieren. Es ist berechtigt, ihr Demokratiedefizit zu bemängeln. Und es ist völlig in Ordnung, die schwerfällige Brüsseler Bürokratie zu tadeln. Wer will, kann sich auch über die Absicht der EU ärgern, das Dirndl-Dekolleté und die Bierkrüge zu verbieten. Das sind natürlich Fake-News, aber sie kursieren im Internet und sind willkommene Aufreger für die EU-Gegner, die in den alternativen Echokammern nur noch das wahrnehmen, was in ihr krudes Weltbild passt.
Der EU-Austritt Grossbritanniens – auch hier prallen Weltbilder aufeinander – kann weder die Gegner noch die glühenden Anhänger der Union kaltlassen. Nach 47 Jahren Zugehörigkeit suchen die Briten nun einen eigenen Weg in der grossen Welt. Die EU verliert einen manchmal nervenaufreibenden, aber wichtigen Partner und eine UNO-Vetomacht. Guy Verhofstadt, ehemaliger Chef der Brexit-Steuerungsgruppe im Europaparlament, fragte nicht nur sich selbst im Brüsseler Plenarsaal: «Wie konnte das passieren?» Und er fügte hinzu: «Es ist traurig, ein Land gehen zu sehen, das Europa zweimal befreit hat.»

Mit seinen emotionsgeladenen Reden, die sich wie ein Manifest für ein friedliches Europa anhören, ist Verhofstadt zu einer Reizfigur für die Brexiteers und rabiate EU-Kritiker geworden. Wenn Verhofstadt eine tief greifende Reform der EU verlangt und von einem Wertebündnis spricht, dann ist sein Appell kein Grund zur Panikmache. Wer die Rede des liberalen Politikers zum Anlass nimmt, um die EU als «Völkerkerker» zu verunglimpfen, der imitiert – geschichtsblind – die balkanischen Ultranationalisten der 80er- und 90er-Jahre.
«Die Wortwahl gegen die EU treibt manchmal seltsame Blüten.»
Sie haben mit der «Völkerkerker»-Rhetorik Jugoslawien delegitimiert und in den Abgrund gestürzt. Was folgte, ist hinlänglich bekannt: Der erste Völkermord in Europa seit 1945, weit über 100'000 Tote, Millionen Vertriebene. Jugoslawien war keine Demokratie, aber auch kein Völkergefängnis, wie die Oberzerstörer damals behaupteten. Auf dem Balkan hat der manipulative Gebrauch der Worte den Krieg vorbereitet.
Davon ist Europa heute glücklicherweise weit entfernt. Doch die Wortwahl gegen die EU treibt manchmal seltsame Blüten, zum Beispiel wenn sogar Journalisten von etablierten Schweizer Medien die Union mit einem «Völkerkerker» vergleichen. Diese Sprache dient nur der Feindbildproduktion, sie stammt aus der Mottenkiste der Geschichte. «So leb' denn wohl, du hohes Haus, / Wir zieh'n entzückt von dir hinaus!», hiess es 1918, als die Nationen den «Völkerkerker» des k. u. k. Reiches verliessen. Der Begriff «Völkerkerker» war laut dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler Propaganda.
Die EU ist fraglos ein komplexes Gebilde, aber kein Völkergefängnis. Sie ist ein loser Staatenbund, der nach dem Zweiten Weltkrieg auch als historisches Friedensprojekt angelegt wurde und für Freiheit und Wohlstand steht. Dass in Europa – mit Ausnahme der jugoslawischen Tragödie – seit 1945 Frieden herrscht, ist nicht selbstverständlich. Dass unser Kontinent weiterhin friedlich bleibt, hängt wesentlich auch von unserem Umgang mit der Sprache ab.
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Geschichtsblinde Rhetorik gegen die EU
Wer die EU als «Völkerkerker» verunglimpft, der imitiert ganz schlecht die balkanischen Ultranationalisten.