Kolumne «Lomo»Die Vorauswisser
Die überraschende Drehbuch-Wendung ist ihr grösster Feind. Warum nur, fragt sich unser Kolumnist, gibt es Leute, die im Kino immer wissen müssen, was als Nächstes passiert?

Letzthin im Kino, da sass ich mal wieder vor zwei Leuten, die zu jener besonderen Sorte Publikum gehörten, die ich «die Vorauswisser» nenne. Man erkennt sie daran, dass sie bei jeder nur erdenklichen Möglichkeit im Voraus wissen möchten, was jetzt dann grad passiert.
Da stieg zum Beispiel im Film die Hauptfigur ins Auto ein, und in den Sitzen hinter mir hörte ich eine Stimme flüstern: «Du, wo fährt der jetzt hin?» Worauf die andere Stimme zurückflüsterte «Woher soll ich das wissen? Ich seh den Film ja auch zum ersten Mal.» Worauf wiederum die erste Stimme meinte: «Ich hab ja nur gefragt. Hätte ja sein können, dass ich was verpasst hab.» Worauf die zweite sagte: «Wir sehen ja jetzt dann eh, wohin er fährt.» Worauf ich dann am liebsten gesagt hätte: «So jetzt reichts aber mal endlich da hinten, wenn ihr noch lange diskutiert, dann hab ich am Ende wirklich verpasst, wohin der Typ fährt.»
Vielleicht haben die Vorauswisser von all den Unberechenbarkeiten des Alltags die Nase voll.
Aber das brauchte ich gar nicht zu sagen, denn unterdessen war ich tatsächlich so abgelenkt, dass ich von dem Film nichts mehr verstand. Stattdessen hirnte ich darüber nach, wie die Vorauswisser wohl ausserhalb des Kinos so leben. Ob sie später auch auf der Heimfahrt im Bus ihre Begleitung unentwegt fragen werden: «Du, was kommt jetzt nach der Kurve?» – «Du, schaltet jetzt dann die Ampel auf Rot?» – «Du, sag mal, wer steigt denn jetzt bei der nächsten Station ein?» – «Du, drückt jetzt dann der Mann bei der Tür auf den Halteknopf?»
Oder sind das alles Fragen, die sie nur dann brennend beschäftigen, wenn diese nicht sie selbst, sondern Figuren auf Kinoleinwänden betreffen? Und wenn dem so ist, könnte es damit zusammenhängen, dass die Vorauswisser wissen, dass im Gegensatz zum realen Leben im Kino nicht alles erst jetzt passiert, sondern schon vorher, beim Dreh passiert ist, da man es sonst ja gar nicht hätte aufnehmen und auf der Leinwand vorführen können.
Vielleicht haben sie ja von all den Unberechenbarkeiten des Alltags derart die Nase voll, dass sie wenigstens im Kino alles vorauswissen möchten. Dann würde ich aber vorschlagen, dass sie in Zukunft nur noch Filme schauen, wo sie tatsächlich schon selber im Voraus alles wissen. Einen Jesusfilm zum Beispiel. Aber ich fürchte, sie würden selbst dann noch genügend Fragen haben: «Du, was passiert jetzt mit dem Kreuz da?»
«Dialogplatz» – der Podcast aus Winterthur
Den Podcast können Sie kostenlos hören und abonnieren auf Spotify, Apple Podcasts oder Google Podcasts. Falls Sie eine andere Podcast-App nutzen, suchen Sie einfach nach «Dialogplatz».
Fehler gefunden?Jetzt melden.