Bundesrat Philipp EtterEin Mann, ein Frauenbild?
Wie Bundesrat Philipp Etter (1891–1977) vom Gegner des Frauenstimmrechts zu einem zögerlichen Befürworter wurde.

Als 1971 das Frauenstimmrecht von der männlichen Stimmbevölkerung angenommen wurde, legte der 79-jährige Altbundesrat Philipp Etter höchstwahrscheinlich ein «Ja» in die Urne. Doch Etter war einer derjenigen Bundesräte gewesen, die dem Frauenstimmrecht kritisch gegenübergestanden waren. Noch 1959, im Jahr seines Rücktritts, hatte er die erste eidgenössische Frauenstimmrechtsvorlage abgelehnt. Der Innerschweizer Katholisch-Konservative war von 1934 bis 1959 so lange Bundesrat gewesen wie keiner mehr nach ihm. Im Sozialbereich bewegte Etter einiges, indem er auf Ängste vor dem Sozialstaat mässigend einwirkte. Die Einführung von AHV und IV geht daher teilweise auf seinen Einfluss zurück. Auch die geistige Landesverteidigung, ein Abwehrkonzept gegen die totalitäre Propaganda ab der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre, baute Etter bedachtsamer auf, als es ihm spätere Interpreten nachsagten.
Was aber waren die Motive der Frauenstimmrechtsgegnerschaft und wie kam Etter davon los? Die Antwort fällt nicht leichter, wenn man weiss, dass längst nicht alle bürgerlichen Bundesräte Frauenstimmrechtsgegner waren. Der katholisch-konservative Tessiner Giuseppe Motta, 1940 verstorben, hatte einmal gesagt, die Schweiz sei erst eine volle Demokratie, wenn der Mann die Frau völlig seinem Schicksal beigeselle. Doch folgte Etter seiner bundesrätlichen Vaterfigur Motta in diesem Punkt nicht. Im Mai 1952 wurden Mitglieder des Frauenstimmrechtsverbands von Etter und BGB-Bundesrat Markus Feldmann zu einer Audienz empfangen. Die beiden versprachen, der Frage des Frauenstimmrechts ihre «ganze Aufmerksamkeit» zu widmen, sobald sie erneut vor der Bundesversammlung aufgerollt werde. Während jedoch Feldmann eine bundesrätliche Botschaft ausarbeitete, blieb Etter skeptisch. Ende 1956, als der Bundesrat darüber beriet, befürwortete Etter zwar eine Volksabstimmung. Doch eröffnete er seinen Kollegen, dass es sich beim Frauenstimmrecht um eine «Zersetzungserscheinung» handle. Die Frau werde an Ansehen einbüssen, wenn sie in die Politik eintrete.
Darin drückte sich das weitverbreitete Unbehagen vieler Männer aus. Nicht nur die katholische Kirche und Etters Partei, die Vorgängerin der einstigen CVP, sondern auch einer seiner engsten Freunde, der Luzerner Nationalrat Karl Wick, gehörten zu den eloquentesten Gegnern der Gleichstellung. Die Quellenlage lässt keine durchgehende Rekonstruktion dieser Ablehnung zu. Immerhin aber liegen im Nachlass des Langzeitbundesrats Zeugnisse aus verschiedenen Epochen der Frauenfrage. Dabei fällt auf, wie sehr das konservative Familienbild dem Frauenstimmrecht entgegenstand. Das hiess zugleich, dass sich auch viele Frauen mitunter als Gegnerinnen zu erkennen gaben. Sie fürchteten um ihren Status als heimische Regentinnen, der ihnen von den Männern zugesprochen wurde.
Der junge Etter und die Familie
Als Anfang des 20. Jahrhunderts in Grossbritannien und den USA die Suffragetten mit ihren Protesten für das Frauenstimmrecht von sich reden machten, äusserte sich auch Etter zum Thema. 1912 war er daran, die Chefredaktion der «Zuger Nachrichten» zu übernehmen, und eine junge Frau namens Marteli berichtete ihm über die Geschehnisse. Sie hielt sich in London vermutlich als Hausmädchen auf und Etter hatte ihr mit «zarten» Frühlingsblumen viel Freude bereitet: «Du bist der einzige, der mir seit dem ich in London bin ein Schweizerblümchen zugesandt hatt.» Marteli berichtete über die Suffragetten in einer Mischung aus Bewunderung, Sensationslust und Ablehnung: «Nun lieber Philipp will ich Dir einiges mittheilen, über die Tapferkeit der Frauen, die meiner Ansicht nach für ein Vaterland nur zu dapfer währen.» Etter zeigte sich in seinem Zeitungsbericht nicht uninteressiert, stellte jedoch den Demonstrationen der Suffragetten das gesittete Auftreten der Frauen am Deutschen Frauenkongress gegenüber. Diese waren ihm «weit sympatischer als das ungestüme, bübelnde Drängen der englischen Suffragettes». Den englischen Grubenarbeiterstreik, über den ihn Marteli ebenfalls unterrichtete, begrüsste Etter hingegen als «sich ins Ungeheure steigernde Macht der Organisation», die nun «den Wert und die Bedeutung der Arbeiterschaft gegenüber dem Grosskapital» betone.
Die Familie war bereits in jungen Jahren der erste Bezugspunkt Etters. Im Katholizismus bildete sie den Kern des Gesellschaftsaufbaus mit der Mutter als Erzieherin. Emanzipatorische Forderungen muteten in diesem Gefüge wie eine tektonische Verschiebung eherner Grundsätze an. 1918 schrieb Etter seiner künftigen Frau Marie Etter-Hegglin, die er als Knabe in seinem Heimatdorf Menzingen kennengelernt hatte, über das Frauenstimmrecht: «Ich bin kein Freund dieser Entwicklung. Sie ist ungesund bis auf die Knochen. Aber sie kommt doch und bricht sich Bahn, und ich sehe meine Marie heute schon, wie sie mit möglichst unpolitischem Gesicht Politik treibt und an der Gemeinde den Herrn Gemahl aus irgendeiner Kommission hinauswählen hilft, damit er abends etwas mehr zu Hause bleibe und seine Zeit nicht in immerwährenden Sitzungen vergeude! Siehst Du, eine gute Seite hätte das neue Ding doch!»
Zehn Kinder sollte Marie Etter-Hegglin schliesslich aufziehen, eine Aufgabe, der sie trotz der Hilfe von Bediensteten alle ihre Kräfte opferte. Etter hatte leicht reden, als er seine Marie 1930 aus dem Militärdienst in Airolo dazu aufforderte, die Kinder nicht zu züchtigen: «Dass Du dem Kronprinz eine Ohrfeige gegeben, will ich Dir verzeihen, in der Meinung, dass sich dies nicht wiederhole. Denn schliesslich ist jede Ohrfeige doch ein Beweis mangelnder Selbstbeherrschung; dem Kind könnte sie gesundheitlich schaden. Du siehst das übrigens selbst ein.»

Marie Etter-Hegglin war unter vielem anderen für die Erziehung, die Finanzen und das Archiv der Familie verantwortlich, die «wirkliche Regierung», wie Philipp Etter einmal schrieb. Wie viele Frauen jener Generation hielt sie die Briefe ihres Mannes für wichtiger, weshalb ihre eigenen Schreiben nur spärlich überliefert sind. Zu politischen Fragen äusserte sie sich selten, aber zuweilen durchaus selbstbewusst. Aus einem Erholungsurlaub 1936 in Bayern schrieb sie ihrem Mann: «Gestern hörten wir am Radio eine Ansprach von Görin. Mit der Zeit wurde es für uns recht ungemütlich, die ewige Schmiperei über andere Länder.» Sie selbst ergriff, wenn die Diskussion aufkam, gegen die Emanzipation Partei. Wenn es auf seine Marie ankäme, schrieb Etter 1933 einem Freund, «müssten alle ‹Weiber› aus den Büros und aus den Fabriken heraus, die Küchenschürze anziehen und in den Haushaltungen als Küchendragoner und Kindermädchen funktionieren. Dass im Wirtschaftssystem meiner Frau der weibliche Kaminfeger erst recht keinen Platz hat, ist bei dieser altmütterischen Einstellung selbstverständlich.» Er teile in dieser Sache wie überhaupt immer, setzte Etter hinzu, die Auffassung seiner Frau. Polemik gegen Lohnarbeiterinnen war im Industriezeitalter verbreitet, denn weibliche Arbeitskräfte konkurrenzierten nicht nur die Männer, sondern waren für viele das Symbol der Schattenseiten eines Kapitalismus, der mit Kinderund Frauenarbeit auch die Familie in seinen unersättlichen Bann ziehe.
Wandel nach 1945
Die Auffassung Marie Etter-Hegglins wandelte sich vermutlich während des Zweiten Weltkriegs. Zwischen 1939 und 1945 verrichteten die Frauen eine grosse Last von Zusatzarbeiten, während die Männer immer wieder durch Militärdienste ihren Familien entzogen wurden. Zwar war mit der Einführung der Lohnersatzordnung gegenüber dem Ersten Weltkrieg eine erhebliche soziale Aufbesserung eingetreten, doch erhofften sich viele Frauen nach 1945 durchaus ein wohlverdientes Mitspracherecht. So porträtierte im Januar 1946 «Meyers Schweizer Frauenund Modeblatt» Marie Etter-Hegglin als «Frau Bundesrat» in ihrer Rolle als Hausmutter, warf aber zuletzt die Frage nach dem Frauenstimmrecht auf. «Wenn es kommt», antwortete Marie vorsichtig, «werde ich selbstverständlich stimmen. Vor allem soll die Frau meines Erachtens in allen sozialen Fragen gehört werden und mitreden dürfen, denn hier kommt es unbedingt mehr auf das Herz an, als auf den kühl abwägenden Kopf des Politikers.»
Philipp Etter bekam diese wachsende Erwartungshaltung nicht nur zu Hause zu spüren. Im Juni 1945, nach einem Fraktionsausflug der Katholisch-Konservativen, zog er sich abends mit seinen politischen Freunden in seine Wohnung zurück, «um dort noch etwas über Frauenstimmrecht zu diskutieren». Zu festgefahren war allerdings das in den schwierigen 1930er-Jahren und der Kriegszeit konsolidierte Standbild der Frau im vaterländischen Dienst. Während der Zeit der geistigen Landesverteidigung hatte Etter das Denkmal der katholischen Frau weiter zementiert. Nicht ohne paternalistischen Charme, aber mit stark antiemanzipatorischen Zügen meinte er 1942 an einem Familienkongress in Zürich: «Viele glauben, die Liebe der Mutter sei weicher als jene des Vaters. Ich glaube das nicht. Im Gegenteil! Ich glaube vielmehr, dass die Liebe der Mutter oft vielleicht noch mannhafter ist als jene des Vaters, so paradox das scheinen mag. Deshalb halte ich mich immer darüber auf, wenn ich in sentimentalen Gedichten und Nachrufen von ‹Mütterchen› oder ‹Mütterlein› lese. Das kommt mir immer vor wie eine capitis diminutio, wie eine Entkrönung. Eine Mutter ist immer eine mulier fortis, eine starke Frau.»
Starke Frauen zu stilisieren und zu fördern gehörte zu diesem Stereotyp dazu. Susanne Schwob, die Kunstmalerin und Berner Industriellentochter, war 1936 erst das insgesamt dritte weibliche Mitglied der Eidgenössischen Kunstkommission. Für Schwob setzte sich Etter, selbst nicht frei von antisemitischen Stereotypen, besonders ein, als sie in Künstlerkreisen antijüdischen Anfeindungen ausgesetzt war. Nach dem Krieg berichtete Etter einem Freund über ein Treffen mit der Präsidentenwitwe Eleanor Roosevelt. Frau Roosevelt, die «uns alle um halbe Haupteslänge überragte», erschien ihm als «eine ungewöhnlich intelligente und eine sehr sympathische Frau». Sie habe «auf das Lebhafteste» politische, soziale, wirtschaftliche und bildungspolitische Fragen diskutiert «und wusste ganz interessante Vergleiche mit den Problemen ihres eigenen Landes zu ziehen». Hilde Vérène Borsinger, eine in katholisch-konservativen Frauenkreisen wegen ihres selbstbewussten Auftretens oft verschmähte Juristin, erhielt durch Etters Vermittlung verschiedene Aufträge. Die Hotelierstochter, die 1929 mit «Rechtsstellung der Frau in der katholischen Kirche» in Zürich promoviert hatte, wurde 1953 in Basel als erste Frau der Schweiz zur Strafrichterin gewählt. 1956 kam sie in den Stiftungsrat von Pro Helvetia, der von Etter gegründeten Kulturstiftung.
Vom Nein zum Ja
Marie Etter-Hegglin verbarg nicht ihren Ärger darüber, dass ihr Mann 1959 ein «Nein» in die Urne legte. Davon erzählte man sich später jedenfalls innerhalb der Familie. Doch ging der innerkatholische Wandel in den 1960er-Jahren mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil an Philipp Etter nicht spurlos vorüber. Der Altbundesrat begrüsste nicht nur das Konzil und die Teildemokratisierung der Kirche, sondern hielt seine erste Rede nach dem Rücktritt zum Thema «Jugend und Autorität». Darin räumte er ein, dass seine Generation unter den drei Autoritäten – dem Vater, dem Lehrer und dem Pfarrer – habe lügen lernen müssen. Die neue Generation hingegen lobte Etter, sie sei zwar in vielem etwas frecher, «als wir es waren», aber auch «ehrlicher, offener». Von 1968 ist eine Rede zum 75. Geburtstag seiner Frau überliefert, in der Etter sagte: «Und hätten wir schon zentume [überall] solche Frauen, so wäre ich noch mehr Freund für das Frauenstimmrecht. Aber das kommt schon.»
Es ist anzunehmen, dass der schriftstellernde «Gelegenheitsromantiker», wie Etter sich im Alter einmal nannte, 1971 beim zweiten Anlauf ein «Ja» einlegte. Drei Jahre später wurde seine Tochter Monika eine der ersten zehn Grossrätinnen im Kanton Bern. Anfang Mai 1977 gratulierte Etter der ersten Präsidentin des Nationalrats zur Wahl mit einem «wunderschönen Blumengruss», wie sich Elisabeth Blunschy-Steiner bedankte.
In seinen letzten Lebensjahren, nachdem er einige Jagderzählungen sowie zahllose Rückblicke auf seine Jugendzeit und Regierungstätigkeit verfasst hatte, litt Etter gelegentlich unter einer gefühlten Bedeutungslosigkeit. Von seiner Wohnung am Dalmazirain aus konnte er zu seiner alten Wirkstätte, dem Bundeshaus, hochsehen. Seine Frau Marie, die er gerne als Inbegriff der mütterlichen Stärke überhöht hatte, war 1972 gestorben. Als dezidiert katholischer Politiker wandelte sich Etter in seiner Politikerkarriere zu einem um Vermittlung bemühten bürgerlichen Bundesrat. Neben seiner Popularität war er zugleich eine durchschnittliche Magistratsperson, die in der Regierung entscheidende Reformen unterstützte, jedoch nicht auslöste. Im Urteil verschiedener Geschichtsforschender wurde Etters Einfluss im Positiven wie im Negativen überhöht. Dabei bleibt in der Einschätzung dieses Politikers manches so, wie es das freisinnige «Aargauer Tagblatt» 1934 kurz vor seiner Wahl zum Bundesrat geschrieben hatte: «Von der Parteien Gunst und Hass verzerrt, schwankt sein Charakterbild von Mund zu Munde, liesse sich frei nach Wallenstein von ihm sagen.» Immerhin hatte sich der seinerzeit besonders kritische Aargauer Bundesrat Edmund Schulthess in einem persönlichen Gespräch davon überzeugt, dass Etter zwar kein Liberaler sei, aber mit seinen Ansichten «voll auf eidgenössischem Boden» stehe.
Am 23. Dezember 1977, zwei Tage nach seinem 86. Geburtstag, starb Philipp Etter in Bern. Auf dem Sterbebett sagte er seinem Sohn, dem Benediktinerpater Kassian, dass er in seinem Leben viele Fehler gemacht habe. Für den Historiker bleibt es schwierig zu entscheiden, welche Fehler genau er damit gemeint hat.
Thomas Zaugg hat mit einer politischen Biografie über Philipp Etter promoviert. Vom 2. März bis 7. November 2021 findet im Landesmuseum Zürich die von Marina Amstad und Pascale Meyer kuratierte Ausstellung «Bundesrätinnen und Bundesräte seit 1848» statt. thomas.zaugg@me.com
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Eine spannender Aspekt dieser schillernden Identifikationsfigur, den Zaugg elegant bewandert. Habe mit Genuss gelesen.
Was mich hingegen umtreibt, sind die letzten Zeilen des Artikels. Darf man dieses Sterbebett-Zitat in den Kontext Frauen hineinspekulieren?
Als Schüler seines Sohnes Pater Kassian, der m.E. viele Züge seines charismatischen Vaters trug, ging mir erst später ein Licht auf. Kassian war verschlossen, was seine private Historie anging, und erst recht, worauf seine moralischen Fundamente basierten.
Aber er liess kaum eine Gelegenheit aus, Gutes über Juden, namentlich PhysikerInnen, im Rahmen seines Unterrichts zu erzählen. Und er wurde nicht müde, vom Schaden, den der Nazismus u.a. für die Physik und demzufolge für die Welt angerichtet hatte, zu erzählen. Er förderte das freie Denken vieler, und tolerierte mein jüdisch-marxistisches Tun und Filmclubdasein mehr als.
Was, wenn Kassian um seines Vaters todbringender Weichenstellungen willen (Mittragen der Grenzschliessung für Juden, und sein Hintertreiben eines Appells des IKRK zu der Lage in den KZs) ins Kloster gegangen wäre? Und sich seines Lebens um Wiedergutmachung bemüht hätte?
Ich erfuhr von BR Etters heiklen Taten erst nach meiner Matur. Wenn andere LeserInnen diese auch nicht kennen würden. Dürfte man dann diesen Aspekt im Artikel ausklammern, und das Reueeingeständnis auf die Frauenförderung trimmen?