Ein Tag in der Woche für andere unterwegs
Täglich stehen bis zu acht Fahrer eines lokalen Vereins im Einsatz, um Menschen mit Behinderung zur Arbeit, zur Schule oder in die Therapie zu fahren. Seit 40 Jahren tun sie dies freiwillig. Ihre Kunden könnten unterschiedlicher nicht sein.
Die Handgriffe sitzen. Sepp Reichlin zieht die Rampe aus dem umgebauten Kleinbus und wartet bis Michael Fischer vom Balkon im eigens gebauten Lift am Boden ankommt. Dann befestigt er zwei Gurte am Rollstuhl, schiebt diesen ins Auto und sichert seinen Kunden mit einem zusätzlichen Sicherheitsgurt. Seit sieben Jahren ist Reichlin Fahrer beim Verein Behinderten-Transport Winterthur (BTW). Heute holt er als erstes Michael Fischer ab. Der 30-Jährige wohnt mit seinem Vater in Töss. Sein Alter sieht man dem knabenhaften Mann nicht an. Seit Geburt sitzt er im Rollstuhl, seine Bewegungen sind eingeschränkt, reden kann er nicht.
Die Ärzte, erzählt der Vater, sagten, er würde das Kindergarten-Alter nicht überleben. Jeden Tag unter der Woche verbringt Michael nun bei der Stiftung Ilgenhalde in Effretikon. «Es ist wichtig, dass er eine Struktur im Leben hat.» In der Freizeit geht er mit seinem Vater Skifahren oder Fischen. «Für uns war immer klar: Seine Behinderung soll nie im Weg stehen.» Auf der Fahrt nach Effretikon beobachtet Michael die Umgebung mit wachen Augen.
Währendessen erzählt Sepp Reichlin, wieso er als Freiwilliger beim Behinderten-Transport gelandet ist. «Eigentlich war es Zufall», sagt der 67-Jährige. Er habe sich vor acht Jahren frühpensionieren lassen und nach einer sinnvollen Beschäftigung gesucht. «Ein Kollege hat mich dann auf den Verein aufmerksam gemacht.» Seither fährt er jede Woche einen ganzen Tag lang für den Verein. Spannend sei für ihn vor allem der Kontakt mit Menschen und ihren Schicksalen, mit denen man im alltäglichen Leben fast gar keinen Kontakt habe. Und, auch wenn es klischeehaft klinge, wenn er am Abend, nach den Fahrten nach Hause komme, sei ihm bewusst, wie gut es ihm gehe.
Vergängliche Kunst
Acht Fahrzeuge besitzt der Verein BTW, alle extra für den Rollstuhltransport ausgerüstet. Und fast alle sind jeden Tag im Einsatz, gefahren von rund 60 Fahrern der BTW, von denen die meisten einen Tag pro Woche für den Verein unterwegs sind. Manchmal sind längere Fahrten in der Schweiz dabei, ab und zu sogar ins Ausland. Das sind rund 12 800 Fahrten pro Jahr in die Therapie, in die Schule, zum Einkaufen, in die Ferien oder zum Kuraufenthalt.
Die Menschen, welche das Angebot des Vereins in Anspruch nehmen, sind unterschiedlich. Von älteren Menschen, die nicht mehr so gut auf den Beinen sind, über Unfallopfer, die für kurze Zeit Begleitung brauchen, bis hin zu Langzeit-Kunden wie Michael Fischer. Oder Peter Wegmann, Reichlins zweiten Kunden an diesem Tag. Der 60-Jährige hat Multiple Sklerose und wird einmal pro Woche in die Physiotherapie gefahren. Wegmann arbeitete 29 Jahre lang für die Stiftung Oskar-Reinhart und leitete das Museum bis Ende 2011 - die letzten drei Jahre im Rollstuhl. Während der kurzen Fahrt entwickelt sich eine Diskussion über die Museumspolitik der Stadt und die Vergänglichkeit der Kunst. Wegmann ist froh, dass es den Verein BTW gibt, «ich bin auf die Hilfe angewiesen». Der Weg von der Breite hinunter ins Zentrum ist für ihn als Rollstuhlfahrer zu steil.
Viele seiner Kunden sehe er regelmässig, sagt Reichlin. Mit den einen sei er mittlerweile auch privat befreundet, andere seien schweigsamer. «Ich frage nie nach, wenn jemand nicht von sich aus erzählt.»
Keine Feier
Neben dem ehrenamtlichen Fahrdienst des Roten Kreuzes, gibt es für den Behinderten-Transport in Winterthur auch private Anbieter, etwa das Schwiizer-Taxi, Reha-Transport oder der den Behinderten- und Rollstuhl-Taxi-Service. Die meisten verfügen über ein einzelnes umgerüstetes Auto. Das Unternehmen Weder hingegen ist alleine für den Schulhausbetrieb in Winterthur täglich mit fast 20 Kleinbussen mit bis zu 15 Plätzen im Einsatz. Nicht alle Konkurrenten haben Freude an den freiwilligen Fahrern. «Wir müssen uns ab und zu anhören, dass wir nicht professionell seien und ihnen die Arbeit wegnähmen», sagt Reichlin. Das störe ihn aber nicht. Schliesslich gehe es ja darum, Menschen zu helfen. Denn nicht alle können sich die teureren privaten Anbieter leisten. Fahrten innerhalb von Winterthur kosten beim Verein BTW pauschal zehn Franken, für jeden weiteren Kilometer kommt ein Franken dazu. Damit finanziert sich der Verein vollständig selber und kann sich, mit zusätzlichen Spendengeldern, jedes Jahr ein neues Fahrzeug anschaffen. Subventionen erhält der Verein keine.
Die freiwilligen Fahrer, bis auf eine Frau alles Männer, sind fast alle pensioniert. Nicht nur, weil sie die Zeit haben müssen, einen Tag pro Woche im Einsatz zu stehen. «Als ich in Rente ging, verlor ich mein Netzwerk bei der Arbeit, mit dem Verein habe ich nun ein neues aufgebaut», erzählt Reichlin. Das gehe den meisten so, trotzdem steht das Helfen klar im Vordergrund. Zum 40 jährigen Bestehen des Behinderten-Transports Winterthur ist dann auch keine grosse Feier geplant. «Das hätten unsere Fahrer nie akzeptiert», sagt René Diebold, Mitglied des Vereinsvorstands.
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