
Kaum fährt die S8 in den Hauptbahnhof Winterthur ein, gehen im ganzen Zug die Lichter und Bildschirme aus. «Es war zappenduster, nur die Handys haben die Gesichter beleuchtet», beschreibt der pendelnde Kollege die gruselige Szene. Er wurde diese Woche schon zweimal Zeuge eines solchen abrupten Stromwegfalls: «Zufall?», fragt er beim Mittagessen. Und mit einem verschwörerischen Unterton: «Oder eine Stromsparmassnahme?»
Der Verdacht ist mit Blick auf die angespannte Energiesituation gar nicht so abwegig. Die Schweiz wappnet sich für eine Strommangellage. «Kommt im Winter die Sauna-Polizei?», titelte etwa der «Blick». Vor dem inneren Auge sieht die Stadtverbesserin schon Polizisten in schwerer Montur eine Sauna stürmen. Und Verhaftete, die dank exzessivem Schwitzen aus den Handschellen schlüpfen, in den Wald flüchten und dort eine alternative Schwitzhütten-Siedlung bauen.
Spass ohne Strom
Wohin führt das noch? Erhalten die Eishockey-Fans am Eingang ein Nachtsichtgerät, wenn die Lichter abgestellt werden? Wie kommen Eltern mit Kinderwägen und Gehbehinderte ohne Rolltreppen in die oberen Stockwerke? Und müssen sich die Menschen bald zwischen der elektronischen Zahnbürste und dem Haarföhn entscheiden? Wenigstens würde mit den Leuchtreklamen auch das weisse Zahnpastalächeln der Modells ausgeknipst. Und an welcher Stelle steht eigentlich die Kaffeemaschine in der Stromspar-Hackordnung?
Die Stadt Winterthur hat zwar noch keinen Sparplan, prüft aber «mögliche Handlunsgsoptionen». Von einem kalten Hallenbad bis hin zu Tauwetter in der Eishalle und gedimmten Strassenlampen ist vieles denkbar. Im Sulzer-Hochhaus könnte man die Computer durch Rechenschieber und Schreibmaschinen ersetzen. So reicht der Strom garantiert für die Leuchtbilder in der Nacht. Etwa für den traditionellen Tannenbaum. Das Datencenter in der Grüze, einer der grossen Stromfresser der Stadt, könnte seine Kunden zum digitalen Ausmisten aufrufen. Niemand braucht 20 verwackelte Fotos vom gleichen Sonnenuntergang.
Auch psychologisch dürfte es trotz Strommangel ein hoch spannender Winter werden. Vielleicht löst die Stromscham die Flugscham ab. Von «Netflix and Chill» bleibt nur noch das Chill übrig, also das Frieren. Das Velo ohne E davor wird zum Statussymbol. Und cool ist eine möglichst tiefe Bildschirmzeit. Die Kurbel-Taschenlampe liegt unter jedem zweiten Weihnachtsbaum. Und auf dem Bäumchen selbst brennen echte Kerzen.
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Kolumne Stadtverbesserin – Wo steht der Cappuccino in der Strom-Hackordnung?
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