EssayEndlich die Börse verstehen
Auch wenn die Börse spinnt, amoralisch ist und zu Übertreibungen neigt: Langfristig hat sie immer recht. Wer das durchschaut, gewinnt.

Es kann kein Zufall sein, dass in Börsenweisheiten das Wort «Idiot» überdurchschnittlich oft vorkommt. Der für seine treffenden Metaphern bekannte Spekulant André Kostolany, der 1999 gestorben ist, meinte einmal, die ganze Börse hänge nur davon ab, «ob es mehr Aktien gibt als Idioten – oder umgekehrt». Vom legendären Investor Warren Buffett, 88, stammt das Bonmot, dass man nur in Firmen investieren sollte, «die auch ein absoluter Vollidiot leiten kann, denn eines Tages wird genau das passieren».
In einem anderen Börsenspruch kommt das Wort «Idiot» zwar nicht vor, es könnte aber sein, dass es ein Idiot war, der ihn formuliert hat, so ganz von Mann zu Mann: «Die Börse heisst in Frankreich ‹La bourse›, und auch in der deutschen Sprache ist sie weiblich. Sie ist und bleibt weiblich, unergründlich, unberechenbar, launisch, von Gefühlen und Neuigkeiten stark abhängig, aber auch ganz besonders faszinierend.»
Die Sprüche decken sich mit der Einstellung vieler Menschen, gerade hierzulande. Sie meinen, dass an der Börse vor allem Idioten, Irre und Verrückte agieren, denen es nur um den schnellen Gewinn geht. Dass es sich dabei um eine Zockerbude handelt, um ein Spielcasino, in dem Süchtige auf Rot oder Schwarz setzen, auf steigende oder fallende Kurse.
Die Wirtschaft in den Industriestaaten ist unterm Strich immer deutlich gewachsen – und die Börse mit ihr.
Vielen Menschen ist das unheimlich, sie wollen nichts damit zu tun haben. Doch die meisten haben eine völlig falsche Vorstellung von der Börse. Ja, es stimmt, in ihr geht es ums Spekulieren, sie ist amoralisch, von Emotionen abhängig, sie neigt zu Übertreibungen, kurz: sie spinnt. Doch das tut sie immer nur kurzfristig. Langfristig hat die Börse immer recht, langfristig sagt sie die Wahrheit, langfristig ist sie sogar weise.
Die falsche Vorstellung von der Börse kostet einige Menschen viel Geld. Sie setzen auf Sparbuch und Tagesgeld, für die es seit zehn Jahren keine Zinsen mehr gibt. Es sieht auch nicht so aus, dass sich das in den nächsten zehn Jahren entscheidend ändert. Die Aktienmärkte boomten in dieser Zeit fast ununterbrochen, auch wenn es 2018 bergab ging, werden sie wieder steigen. Das liegt in der Natur der Sache in marktorientierten, kapitalistisch organisierten Volkswirtschaften. Das war in den vergangenen 120 Jahren immer so. Es gab zwei Weltkriege, einige grosse und unzählige kleine Krisen, aber die Wirtschaft in den Industriestaaten und seit einigen Jahrzehnten auch in den Schwellenländern ist unterm Strich immer deutlich gewachsen – und die Börse mit ihr. Die Aktienindizes in den USA oder in Deutschland legten auf lange Sicht durchschnittlich um etwa sieben Prozent im Jahr zu.
Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Börse
Kurzfristig übertreiben die Menschen an der Börse aus Angst oder Gier nach unten oder nach oben. Langfristig aber spiegeln die Aktienkurse die wahren Verhältnisse in einer Wirtschaft wider. Denn am Ende können die Unternehmen immer nur so viel Gewinn machen, wie es die Wirtschaft zulässt, in der sie tätig sind. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Börse, zwischen Realität und Spekulation. Kurzfristig ist die Börse irrational und kann von Idioten dominiert werden, langfristig aber ist sie sehr rational.
Immer wieder kreuzen sich die Wege, der Hund kommt zum Herrn zurück.
Es war ebenfalls André Kostolany, der dafür das passende Bild gefunden hat. Ausnahmsweise kommt darin nicht das Wort «Idioten» vor, die zentralen Begriffe sind «Herr» und «Hund». Kostolany fühlte sich bei einem Spaziergang an das Börsengeschehen erinnert. «Stellen Sie sich einen Mann vor, der mit seinem Hund eine Strasse entlanggeht», sagte er. «Der Mann schreitet gleichmässig voran; das ist die Industrie. Der Hund stürmt vorwärts, springt hierhin und dorthin, kommt zu seinem Herrn zurück, läuft wieder davon und kommt wieder zurück; sein Weg stellt die Bewegungen der Wertpapiere dar.»
Legt man die Kurve eines Aktienindex und die Wachstumsrate der jeweiligen Wirtschaft über einen langen Zeitraum übereinander, sieht man zwei Linien, die an den Spazierweg von Herr und Hund erinnern. Mal steht der Aktienindex höher als die Wachstumskurve, mal niedriger. Aber immer wieder kreuzen sich die Wege, der Hund kommt zum Herrn zurück.
Wirtschaft und Börse können sich nicht zu weit voneinander entfernen, es muss einen Ausgleich geben. Schätzen Anleger die Realität zu optimistisch ein, werden die Kurse irgendwann fallen. Waren sie zu skeptisch, werden sie steigen. Auch wenn die Kurse zwischendrin verrückt spielen, am Ende landen sie auf dem Boden der Realität. Deshalb siegen auf lange Sicht nicht die Idioten, sondern die Realisten.
Ein Versuch, den Wert eines Unternehmens zu bemessen
Warum aber braucht die Börse das Element der Spekulation, warum können Aktienkurse und Wirtschaft nicht einfach immer parallel laufen? Es liegt in der Natur der Aktie, dass sie auf die Zukunft ausgerichtet ist. Ein Unternehmen, das an die Börse geht, gibt Eigentumsrechte ab und nimmt dafür Geld ein. Es finanziert sich über viele Aktionäre, die hoffen, dass das Unternehmen eine positive Entwicklung nimmt und die Aktie steigt.
Finanziert sich ein Unternehmen über einen Kredit, übernimmt die Bank die Prüfung der Bonität, um sicherzustellen, dass es in der Lage ist, den Kredit inklusive Zinsen zurückzuzahlen. Bei einer Aktie ist jeder Anleger dafür verantwortlich, diese Einschätzung selbst zu treffen. Darunter sind auch professionelle Investoren, die sich intensiv mit dem Unternehmen befassen. Ein Aktienkurs ergibt sich aus der Summe der Einschätzungen aller Anleger über die Zukunftsaussichten des Unternehmens. In ihrem Kern ist die Börse deshalb keine Zockerbude, sondern eine Institution, um aus der Meinung vieler den Wert eines Unternehmens zu ermessen. Dass es dabei zu Fehleinschätzungen und Übertreibungen kommt, ist selbstverständlich, weil niemand die Zukunft vorhersehen kann. Die Konjunktur macht, was sie macht, der Aktienmarkt versucht zu erraten, wo es hingeht. Er wird aber immer von der Realität eingeholt werden.
Der grösste Fehler: die Panik
Für diejenige oder denjenigen, der diesen Mechanismus versteht, verliert die Börse vieles von ihrem Schrecken. Sie oder er weiss, dass es zu Übertreibungen kommen kann, aber er weiss auch, dass sich diese auf Dauer einebnen. Deshalb empfehlen viele Anlageexperten, langfristig an der Börse zu investieren, mindestens zehn Jahre. Das ist nötig, um irrationale Reaktionen und reale Konjunktureinbrüche aussitzen zu können. Es gibt immer Phasen, in denen die Kurse fallen. Solche Phasen können auch zwei, drei oder vier Jahre dauern. Es ist wichtig, dass der Anleger in dieser Zeit das Geld ruhen lässt. Nach aller Erfahrung gehen solche Phasen vorbei.
Wer Geld in Aktien anlegt, sollte nicht jeden Tag nervös auf die Kurse schauen.
Es war wieder Kostolany, der dafür ein passendes Bild geprägt hat: Anleger sollten Standardwerte kaufen, also die Aktien grosser Unternehmen, dann ein Schlafmittel nehmen und sich nach Jahren an den Kursgewinnen erfreuen. Es gibt heute zwar bessere Möglichkeiten, in den Aktienmarkt zu investieren als über Standardwerte, mit denen Anleger ein grosses Einzelrisiko eingehen. Mit Indexfonds, auch ETF genannt, lässt sich die Anlage in Aktien breit streuen. Wer zum Beispiel Geld in den Index MSCI All Countries World steckt, investiert in 2600 Unternehmen aus den Industrie- und Schwellenländern, also in die gesamte Weltwirtschaft. Ein Unternehmen kann untergehen, selbst Branchen können verschwinden, aber kaum die Weltwirtschaft als Ganzes.
Deshalb ist Kostolanys Rat auch heute noch wertvoll: Wer Geld in Aktien anlegt, sollte nicht jeden Tag nervös auf die Kurse schauen und sich ausrechnen, wie viel Geld er verloren oder gewonnen hat. Denn kurzfristig ist die Börse ein unberechenbarer, reissender Gebirgsbach, langfristig aber ein langer, ruhiger Strom. Sonst spielt die Psyche dem Menschen einen Streich: Er ist so konditioniert, dass er in der Euphorie gern kauft und im Jammer verkauft. Das ist der grösste Fehler von Privatanlegern, der auch dazu geführt hat, dass viele heute von Aktien nichts mehr wissen wollen: Jene, die Geld verloren, als nach dem Jahr 2000 an der Börse die Internet-Blase platzte. Zu der Zeit war das Interesse der Bundesbürger gerade erwacht, es entstand eine Euphorie um die Aktien von Telekom, Infineon oder EM.TV.
Die Jahre von 2000 bis 2003 sind auch ein Beweis für die These, dass an der Börse kurzfristig Idioten den Ton angeben können, langfristig aber die Vernunft siegt. Neue Technologien wie Internet, Telekommunikation und Biotechnologie führten um die Jahrtausendwende bei Anlegern zu einem irrationalen Überschwang. Das zog auch Betrüger an, die mit windigen Geschäftsmodellen an die Börse gingen und Anleger über den Tisch zogen.
Vorübergehend hatten die Idioten das Sagen, zum Schaden der Privatanleger. Doch auf lange Sicht haben sich die neuen Technologien durchgesetzt, Konzerne wie Apple, Amazon und Google gehören heute zu den wertvollsten der Welt. Es wäre vor 20 Jahren ein guter Rat für Anleger gewesen, einen ETF auf die Weltwirtschaft zu kaufen und Schlaftabletten zu nehmen.
Anleger können auf Ethik und Naturschutz achten
Bleibt ein letzter, schwerwiegender Einwand: der Zynismus der Börse. Oft kommt es vor, dass eine Aktie steigt, wenn ein Unternehmen ankündigt, massenhaft Stellen abzubauen. Als Donald Trump US-Präsident wurde, jubelten die Börsianer. Derzeit jubeln sie über Brasiliens Präsidenten Jair Bolsonaro, der sich rechtsextrem, militaristisch und sexistisch geäussert, aber eben auch wirtschaftsfreundliche Reformen angekündigt hat. Der Börse scheint es egal zu sein, wer die Gewinne der Unternehmen steigert, Hauptsache es tut einer – und wenn es ein Idiot ist.
Doch auch hier gibt es Anlass zur Hoffnung. Die Zahl der Anleger, denen es nicht egal ist, wie ein Unternehmen seine Gewinne macht, wird grösser. Sie achten darauf, dass ein Unternehmen die Umwelt nicht schädigt, dass es seine Arbeiter nicht ausbeutet, dass es die Prinzipien einer guten Unternehmensführung und -kontrolle einhält. Diese Anleger sind noch in der Minderheit, doch ihre Bedeutung nimmt zu. Die Investoren üben positiven Druck auf die Unternehmen aus. Dem Image der Börse würde es guttun, wenn sie die Anleger nicht nur reicher machen würde, sondern die Welt auch ein bisschen besser.
Redaktion Tamedia
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