Hochaktuelle Weltentwürfe
Zur Eröffnung des Schweizer Tanzfestivals Steps zeigt die Göteborgs Operans Danskompani im Theater Winterthur zwei weltumspannende Tanzstücke: ein Ereignis.
Was in der Schweizer Tanzwelt Rang und Namen hat, fand sich am Donnerstagabend im Theater Winterthur ein, wo der dreissigste Geburtstag des Migros-Kulturprozent-Tanzfestivals Steps gefeiert wurde. Festivalleiterin Isabella Spirig hatte eine glückliche Hand: Zum Auftakt gab es ganz grosses Tanztheater, wie man es selten zu sehen bekommt. 32 Tänzerinnen und Tänzer der Göteborgs Operans Danskompani aus Schweden, in Kooperation mit Eastman aus Belgien, nahmen am Schluss Standing Ovations entgegen.
Linien und Kreise
Gezeigt hatten sie zwei Weltentwürfe des belgischen Tänzers und Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui, «Noetic» von 2014 und dessen Gegenstück «Icon» von 2016. Cherkaoui ist in Antwerpen zu Hause, in seine Arbeiten lässt er jedoch Bewegungen, Ideen und Musik aus der ganzen Welt einfliessen. Um zu zeigen, dass wir Menschen doch eigentlich gar nicht so verschieden sind, auch wenn wir anders aussehen: Wir sind Körper im Raum und in der Zeit. Der schottische Bildhauer Antony Gormley, mit dem Cherkaoui seit langem eine fruchtbare Zusammenarbeit verbindet, veranschaulicht dies mit seinem Bühnenbild in beiden Stücken.
«Noetic» (das Wort bedeutet so viel wie «das Wissen und Denken betreffend») feiert die gestalterische Kraft von dunklen Linien im weissen Raum und offenbart die Macht von Zahlen. Neun Tänzer in Anzügen und zehn Tänzerinnen im Partykleid und mit Knieschonern bilden mit langen, biegsamen Kohlefaserstäben eckig-geometrische Muster auf dem Boden, die sich in Ringe verwandeln. Diese schwingen durch die Luft, bis aus ihnen eine Kugel wird – mit dem Menschen im Mittelpunkt.
Expedition ins Weltall
Wie Sterne und Planeten umkreisen sich die Körper und verlieren doch nie den Kontakt zum Boden, zum Bühnenraum, dessen Diagonale ab und an von einem Mann auf schicken Stöckelschuhen durchmessen wird. Dazu kommen die sphärischen Klänge der Komposition von Szymon Brzóska ab Band, live verstärkt mit Gesang und japanischen Instrumenten. Diese tänzerische Expedition ins Weltall könnte schnell einmal zu ätherisch werden, doch dafür ist Sidi Larbi Cherkaoui viel zu klug.
Lenkt «Noetic» die Wahrnehmung auf den Geist, so führt «Icon» («Bildzeichen») sie wieder zum Körper zurück, zur Erde, zum Lehm, aus dem wir vielleicht entstanden sind. Dreieinhalb Tonnen Lehm liegen schwer auf der Bühne, und 18 Tänzer in wallenden weissen Gewändern arbeiten sich an ihm ab. Aus dem unberechenbaren Material kneten, klauben und schöpfen sie Figuren, um sie wieder zu zerstören, kreieren sich Kronen, Kampfmasken und sekundäre Geschlechtsmerkmale, die, flugs vertauscht, zu Kindern und wieder zu Lehmkügelchen werden, mit denen man Sündenböcke bewirft.
Archaisch und gegenwärtig
Das ist archaisch, ja, und zwar unabhängig von einem spezifischen kulturellen Hintergrund gleichzeitig hochaktuell. Denn die Tänzer sprechen solistisch und chorisch Texte, die unsere Gegenwart mit E-Mails, Smartphones und selbstlernenden Algorithmen reflektieren und zu Gedankenexperimenten anregen. Und über allem schweben live gesungene Volkslieder aus Japan und Europa.
Wenn die Tänzer sich am Schluss zusammenraufen und eine Kollektivskulptur bilden, so steht kein Goldenes Kalb da, kein Götze und auch keine Popikone, sondern schlicht ein sitzender Mensch aus Lehm und 18 Menschen aus Fleisch und Blut um ihn herum. Alle haben sie die Beine angezogen und den Kopf – müde oder demütig? – auf die Arme gelegt. «Icon» feiert das Mensch-Sein und das Leben.
Weitere Aufführung: Heute, 19.30 Uhr, Theater Winterthur. Danach in Genf und Freiburg. – Ferner am 16./17. 4.: Gauthier Dance.Das Festival Steps dauert bis 5. Mai.
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