Gegen die Mauer anspielen
Das Stück «Lampedusa» von Anders Lustgarten führt zu strandenden Flüchtlingen auf der italienischen Insel und zu Sozialfällen nach Nordengland.

Das Publikum im Kellertheater blickt direkt an eine Mauer. «We build a wall to keep us free», wird Anaïs Mitchell am Ende singen. Wir bauen eine Mauer, um uns unangenehme Dinge vom Leib zu halten. Das 2015 in London uraufgeführte Stück «Lampedusa» von Anders Lustgarten konfrontiert uns mit diesen Dingen. Mit den Leichnamen ertrunkener Flüchtlinge, die der ehemalige Fischer auf Lampedusa aus dem Meer holt, eine Arbeit, die sonst niemand tun will. Und mit der Studentin, die in einer nordenglischen Stadt Schulden von Sozialfällen eintreibt, um ihr Studium zu finanzieren.Pema Shitsetsang und Christian Kerepeszki stehen und sitzen vor, hinter und auf der Mauer und schildern abwechselnd das Leben ihrer Figuren. Das ist direktes, packendes Erzähltheater, keineswegs immer todernst oder plakativ, wie man zunächst vermuten könnte, aber etwas didaktisch, was auch an der Vorlage liegt. Das Stück baut ganz auf die Vorstellungskraft des Publikums, und darin liegt seine Stärke.
Wir bewegen uns in zwei Welten, wir hören und sehen die Wellen, den Horizont, an dem plötzlich ein Flüchtlingsboot auftaucht, und wir betreten die Wohnung von Leuten, die einen Kredit aufgenommen haben, um einen Fernseher zu kaufen oder die Wohnungsmiete zu bezahlen.
Auf Distanz
Die Studentin muss sich mit den Tricks der Leute herumschlagen. Hinter jeder Freundlichkeit vermutet sie einen Zweck. Zudem verbietet die Firma, für die sie arbeitet, jeden engeren Kontakt. Über die Situation der Leute macht sie sich keine Illusionen. Dass neun der zehn ärmsten Regionen Nordeuropas in Grossbritannien liegen, das schreibt die Studentin der Politologie in ihrer Hausarbeit. Und wie demütigend die Prozeduren der Sozialversicherungen sind, weiss sie von ihrer 58-jährigen, kranken Mutter, die ihre Arbeitsunfähigkeit beweisen muss, um Geld zu bekommen.
Der Fischer schildert, wie es ist, wenn man Leichname aus dem Wasser hebt: Ein Gefühl, wie wenn einem ein öliger Plastiksack aus den Händen gleitet. Aber man gewöhnt sich daran. Auch er vermeidet es, mit den Geretteten ins Gespräch zu kommen, sie könnten ihm am Ende noch seinen Job streitig machen.
Ein Schritt auf das Fremde zu
Zu Beginn geben sich beide abgeklärt, das sind zwei Menschen, die sich keinen Illusionen mehr hingeben. Am Ende haben sie einen Schritt auf das Fremde zu gemacht. In seinem Fall ist das der Flüchtling aus Mali, der weiss, wie man einen Schiffsmotor repariert. In ihrem Fall eine alleinerziehende Portugiesin, von der sie sich zum Essen einladen lässt. Pema Shitsetsang gibt die Studentin als coole junge Frau, die nicht nur zum Schein selbständig denkt, wie es die Universität von ihr verlangt. Sie nimmt es schliesslich auch mit den Bürokraten auf und wechselt mit Leichtigkeit zwischen den Stimmungsregistern, ist mal wütend, mal nachdenklich. Und wenn sie gerührt davon erzählt, dass ihre neue Freundin überraschend zur Abdankung ihrer Mutter gekommen ist, schüttelt sie ungläubig ihren Kopf: «Dass Menschen so freundlich sein können.»
Christian Kerepeszkis hat die undankbarere Rolle. Was er berichtet, lesen und hören wir jeden Tag. Wenn er sich betrinkt, um es noch auszuhalten, gerät sein einfacher Fischer zum Klischee. Glaubwürdig hingegen ist er in seiner Trauer und Wut.
Beide Figuren sind Teil eines Systems, das dem Einzelnen scheinbar keine Wahl lässt. Hinter der Härte, die sie am Anfang an den Tag legen, steckt die Überzeugung, dass jeder für sich selbst schauen müsse. Damit verbunden ist ein Bild des Menschen, wonach er von Gier getrieben sei; diese Prägung durch eine fragwürdige Annahme ist eine der wenigen Thesen, die Lustgarten in sein Stück gepackt hat. Die Universität, an der die Studentin ihre Abschlussarbeit schreibt, vertritt dieses Bild – nicht offen, vielmehr versteckt in der naiven oder scheinheiligen Warnung vor den «Gefahren eines uneingeschränkten Materialismus». Die Mauer zwischen den Menschen, sie ist ein starkes Bild (Regie: Udo van Ooyen, Bühne: Christof Bühler).
Lampedusa: Kellertheater Winterthur, Marktgasse 53. Bis 29.1.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch