Kolumne «Lomo»Glücklich und was man dagegen tun kann
Nach einigem Grübeln sind dem «Landbote»-Kolumnisten ein paar Sachen eingefallen, um sich zumindest ein bisschen benachteiligt zu fühlen.

Heute Morgen fiel mir mit Schrecken auf: Ich bin ja ein richtig zufriedener Mensch. Ich sass auf dem Balkon, trank meinen Kaffee, schaute in die Blätter des Baumes und war – ich traue es mich fast nicht zu sagen – glücklich. Jetzt schäme ich mich dafür, denn als ich dann anfing die Zeitung zu lesen, wurde mir klar, dass ich mit dieser unbeschwerten Attitüde vollkommen unzeitgemäss bin.
«Noch viel bedenklicher ist, dass man mir nicht erlaubt, füdliblutt in der Migros einkaufen zu gehen.»
Zumindest in irgendeiner Form mich als Opfer einer böswilligen Diskriminierung fühlen, das sollte ich mir schon zulegen, dachte ich bei mir, als ich zum Beispiel von den Vorstössen gegen Covid-Massnahmen las. Aber bei diesen Aktivitäten wollen die mich als Geimpften wohl gar nicht mehr dabei haben. Ich muss mir also etwas anderes suchen, wo ich mich benachteiligt fühlen kann.
Ich hab scharf nachgedacht, und nach einigem Grübeln sind mir dann doch noch ein paar Sachen eingefallen. Wenn ich es mir so überlege, finde ich es zum Beispiel eine ziemliche Diskriminierung, dass ich nicht auf der Autobahn fahren darf, nur deswegen, weil ich keinen Führerschein habe. Noch viel bedenklicher ist, dass man mir nicht erlaubt, füdliblutt in der Migros einkaufen zu gehen.
Ist das bei genauer Betrachtung nicht Beweis dafür, dass wir hier in der Schweiz in einer Diktatur leben? Auch scheint mir die Gefährdung durch meine Nacktheit noch viel zweifelhafter als beispielsweise eine Gefährdung durch Viren.
Auch überlege ich mir, den Verein «Freunde der freien Tischmanieren» zu gründen, der endlich dafür sorgt, dass mir in Restaurants nicht immer Messer und Gabel hingelegt werden, denn eigentlich ist doch dieses Besteckpräsentieren ein impliziter Essverhaltenszwang, eine Gabelbenutzpflicht durch die Hintertür sozusagen. Erinnert uns diese unerträgliche Diskriminierung all jener, die lieber direkt mit dem Mund im Teller essen möchten, nicht an dunkelste Zeiten?
Zwar kam mir auch noch kurz der Gedanke, dass es andernorts wohlmöglich Menschen gibt, die aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihres Glaubens tatsächlich an Leib und Leben bedroht sind. Aber ich hab diese Gedanken dann schnell beiseitegeschoben. Jetzt, wo ich mir doch so viel Mühe gegeben hab, zu vergessen, wie privilegiert ich bin, werde ich mir doch mein Mich-diskriminiert-Fühlen nicht durch Empathie zunichtemachen lassen!
Die Kolumne «Lomo» von Filmwissenschaftler Johannes Binotto erscheint jeden Mittwoch in der Printausgabe des «Landboten».
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