Kolumne «Lomo»Hausgast meldet sich zurück
Erinnern Sie sich? Der «Landbote»-Kolumnist suchte zuletzt eine Maus. Er hat sie gefunden, doch fangen lassen wollte sie sich nicht.

Nun hat sich unser scheuer Hausgast, von dem ich letzte Woche erzählt habe, doch noch bei mir gemeldet. Zwar nicht wie von mir vorgeschlagen per Leserbrief an die «Landbote»-Redaktion, sondern direkter. Mit Lesen hatte das Ganze dann aber doch zu tun.
Ich sass spät nachts an meinem Computer und tippte Seminararbeitskorrekturen, da hörte ich es rechter Hand von mir rascheln und sah gerade noch die Maus in eines meiner vielen Bücherregale krabbeln, grad dort, wo Dantes «Göttliche Komödie», Maupassants «Gesammelte Novellen» und Boccaccios «Decamerone» stehen. Der Nager hatte wohl ein Flair für die Klassiker.
«Wer stundenlang am Computer sitzt, fängt schon manchmal an, Mäuse zu sehen.»
Als ich es indes dort im Gestell erwischen wollte, war das Mäuschen nicht mehr zu finden, und ich begann, mich schon zu fragen, ob ich vielleicht halluziniert hatte. Wer stundenlang am Computer sitzt, fängt schon manchmal an, Mäuse zu sehen. Doch ehe ich vollends an meiner Wahrnehmung zu verzweifeln begann, hat sich die Maus dann ein Regal tiefer bei den gelben Reclam-Bändchen gezeigt.
Und was so literarisch hochstehend begann, wurde dann eine lange, lange Nacht. Vieles habe ich dabei herausgefunden. Zum Beispiel weiss ich jetzt, welche Kistchen, Schachteln, Plakatröhren und Taschen in meinem Zimmer sich besonders gut dafür eignen, ein mobiles Kleintiergehege zu bauen.
Irgendwann war ich dann so weit, dass ich die Maus derart eingekesselt hatte, dass sie sich nur noch unter meiner grossen Truhe verstecken konnte. Bei jedem Versuch aber, die Truhe zu heben und die Maus mit meinen Handschuhhänden zu packen oder einen Schuhkarton über sie zu stülpen, um sie so sicher nach draussen in die freie Wildbahn zu verfrachten, wich mir mein Gegenüber so geschickt aus, dass all meine Bemühungen umsonst waren.
Von meinem nächtlichen Rumoren aufgeschreckt, kam irgendwann auch noch unsere Katze dazu, die mir gleich helfend beisprang, dabei aber nichts Besseres zu tun wusste, als die Maus aus meinem Gehege herauszutragen und dort wieder springen zu lassen. So verging dann noch mal eine gute Stunde, bis ich die Maus endlich gefasst und unversehrt aus meinem Fenster in unseren Garten entlassen hatte.
Schweissüber- und adrenalindurchströmt begann ich dann die herumliegenden Zimmerbestandteile zusammenzuräumen. Darunter natürlich auch Boccaccios «Decamerone». Der Titel bedeutet ja «Zehn-Tage-Werk» – und genau so fühlte ich mich auch.
Die Kolumne «Lomo» von Filmwissenschaftler Johannes Binotto erscheint jeden Mittwoch in der Printausgabe des «Landboten».
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