«Hier muss man mich wenigstens begraben»
Das schwerste Gepäck, das Izak El-Nafael mit sich trägt, ist seine Geschichte. Seit neun Jahren lebt er nun meist in Notunterkünften, zuletzt in Kemptthal. Letzte Woche wollte er sein Leben beenden. Er glaubte, ausgeschafft zu werden.

Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, geschlossene Akutstation. Während Izak El-Nafael an diesem Montagabend seine Geschichte erzählt, fasst er sich immer wieder an den Hals, wenn es ihm eng wird. Dorthin, wo das Bettlaken in der Zelle ihn hätte töten sollen. Vor zehn Tagen haben ihn zwei Polizisten der Kantonspolizei frühmorgens aus seinem Bett geholt und verhaftet. Sein Bett ist eines von insgesamt sechs in dem Zimmer in der Notunterkunft in Kemptthal, das er seit zweieinhalb Jahren «mein Zuhause» nennt. Sie brachten ihn nach Effretikon in eine Zelle.
«Da wusste ich, es ist vorbei»
El-Nafael erzählt, da sei kein Dolmetscher gewesen. Er spricht fliessend Deutsch. Er sei sich sicher: Keiner habe ihm gesagt, warum er hier sei. «Der Polizist wollte, dass ich mein Telefon entsperre, ich habe gefragt, warum ich das tun muss.» Der Polizist habe gesagt, er solle einfach gehorchen. El-Nafael gehorchte nicht. Der Polizist sei wütend geworden, er selber erst auch, dann habe er Angst bekommen, weil der Polizist ihm gesagt habe, er werde ohnehin ausgeschafft. «Egal wo», habe er gesagt, «egal wo in Afrika», man werde ihn jetzt nicht mehr freilassen.
Das alles glaubte Izak El-Nafael aber erst wirklich in der Kaserne in Zürich, wo man ihn hingebracht hatte. «Als einziger von 15 afrikanischen Männern musste ich zurück in meine Zelle. Da wusste ich, es ist vorbei.» Er nahm das Bettlaken und stellte sich auf den Stuhl in der Zelle, um sich zu erhängen.
Er erwachte im Universitätsspital, wo man ihn behandelte und an die Psychiatrie verwies. Während er dort erzählt, ist er noch fest davon überzeugt, dass die Polizei ihn in den nächsten Tagen zurückholen und zum Flughafen bringen wird. Eine kleine Hoffnung, die manchmal durchblitzt, ist Bea Schwager, Leiterin der Anlaufstelle für Sans-Papiers in Zürich, die ihn juristisch berät. Und seine Freunde, die ihn jeden Tag besuchen, ihm Blumen bringen und Schokolade.
Einer davon hat ihm dazu geraten, mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Ein anderer, der reformierte Pfarrer aus Illnau-Effretikon, Konrad Müller, kennt ihn von der Kochgruppe, die dieser mittwochs in Effretikon veranstaltet. Alle würden El-Nafael dort schätzen, er sei gutmütig und heiter, wenn er Karotten schäle oder abspüle, lache er viel. Er glaube ihm und seiner traurigen Geschichte. Auch Bea Schwager glaubt ihm, «aber die Behörden glauben ihm nicht», sagt sie.
Ein Leben auf der Flucht
Izak El-Nafaels Geschichte beginnt früher. Nicht mit dem Selbstmordversuch. Auch nicht mit seiner Ankunft in der Schweiz vor neun Jahren, oder dem abgelehnten Asylgesuch zwei Jahre später. Sondern vor 42 Jahren. In einem Land, das damals noch auf keiner Karte zu finden war, für das er keine Papiere besitzt: Er kam im heutigen Südsudan zur Welt. Zwölf Jahre später entschied seine Mutter, mit ihren drei Kindern den Sudan und den Bürgerkrieg zu verlassen. So kam El-Nafael nach Kenia, wo sein Sohn wahrscheinlich noch heute lebt, das hofft er, und er hofft, ihn irgendwann zu finden.
Die Frau, in die er sich dort verliebte, war nicht beschnitten, als sie von ihm schwanger wurde. Vater und Bruder der Frau missfiel das wie die Tatsache, dass El-Nafael kein Kenianer war, sie bedrohten das Paar. Es floh in eine andere kenianische Stadt und lebte versteckt mit dem Sohn. El-Nafael schlug sich gut durch, wie er sagt, er konnte das Gepäck von Passanten tragen, Touristen führen, sich nützlich machen. Seine Frau wurde wieder schwanger. Als El-Nafael von der Arbeit nach Hause kam, das liegt neun Jahre zurück, war die Frau weg. Er fand sie bei ihrer Familie – tot. «Sie haben die Beschneidung nachgeholt, sie ist verblutet», sagt er und weint.
Unerwartete Wendung
Verantwortlich für die Tragödie habe die Familie ihn gemacht, ihm gedroht, bis er erneut floh, diesmal nach Europa und in die Schweiz. Nach Kreuzlingen, nach Uster und an viele Orte, in denen es Notunterkünfte gibt. «Ein Jahr lang lebte ich in einer Sieben-Tage-Lösung, ich war jede Woche in einer anderen Asylunterkunft.» Das aber störte ihn nicht sehr. «Alles ist besser als das, was war», sagt er. Und er hoffte, bald arbeiten zu können und mit Geld und Mut nach Kenia zurückzukehren zu seinem Sohn. Zwar fürchtet er, von der Familie umgebracht zu werden, wenn man ihn findet, aber er will es irgendwann wagen. Jetzt aber «egal wo in Afrika» auf der Strasse zu leben, das ist seine schlimmste Vorstellung. «Von den Vögeln gefressen werden», sagt er, das sehe er vor sich. «Hier muss man mich wenigstens beerdigen.»
Härtefallgesuch geplant
So weit kam es nicht. Wie sich inzwischen herausstellte, drohte El-Nafael auch nicht die unmittelbare Ausschaffung, sondern ein Termin beim Staatssekretariatfür Migration in Bern zu einer Konfrontation mit einer nigerianischen Expertendelegation. El-Nafael hat wieder Hoffnung geschöpft. Stefan Frey, Mediensprecher der Flüchtlingshilfe Schweiz, spricht im Falle von solch langwierigen Verfahren von «einem unhaltbaren, unerträglichen Schwebezustand für alle Beteiligten». Bea Schwager indessen will Massnahmen ergreifen: «Wir werden nun ein Härtefallgesuch einreichen und hoffen auf Status B.» Sie ist empört über die «Anmassung des Polizisten», viel zu oft habe sie in Zusammenhang mit Flüchtlingen mit «Schikanen der Polizei» zu tun. Ob sich die Anlaufstelle gegen die Kantonspolizei wenden wird, klärt sie ab. Dort heisst es, man könne zum laufenden Verfahren keine Auskunft geben. El-Nafael kann die Psychiatrie heute verlassen. Was kommt, weiss er nicht, wie vor seiner Festnahme. «Das alleine ist heute mein Glück.»
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