Interviewserie über Heimat (4)«Ich war so beeindruckt von allem hier in der Schweiz!»
Für Mustafa Atici war immer klar: Hier lebe ich, hier arbeite ich, hier mache ich mit. Heute ist der gebürtige Kurde Nationalrat für die SP Basel-Stadt.

Herr Atici, können Sie uns die Geschichte Ihrer Migration erzählen?
Ich habe in der Türkei Wirtschaftsingenieur studiert und wollte danach ins Ausland, um ein Masterstudium anzuhängen. Mein Fernziel war eine akademische Karriere in der Türkei. Ich stamme aus einer relativ gut situierten Familie, mein Urgrossvater und mein Vater waren Getreidehändler in Ostanatolien und konnten mir das Studium ermöglichen.
Sie gingen zuerst nach Deutschland.
Ja, nach Köln. Aber da war ich nur kurz. Wir sind neun Geschwister, davon lebten zu Beginn der 90er-Jahre sechs in der Schweiz. Eigentlich wollte ich es vermeiden, zur Familie zu ziehen, auch wegen der Sprache – ich wollte ja nicht nur Türkisch oder Kurdisch sprechen. Als ich meine Geschwister dann 1992 in Basel besuchte, sagten mir aber alle: «Was willst du in Köln? Komm zu uns!»
«Nur mit der Sprache hatte ich Mühe. Ich habe dann ein Abonnement der ‹Basler Zeitung› abgeschlossen, wofür ich von meinen Geschwistern ausgelacht wurde.»
Was Sie getan haben.
Es schien mir vernünftig. Viele meiner Geschwister waren schon unternehmerisch tätig, eine Schwester verkaufte hier am Tellplatz türkische Lebensmittel, ein Bruder hatte die erste türkische Metzgerei der Stadt. Ich habe mir gedacht: Da kann ich mit meinen Geschwistern zusammenarbeiten. So machte ich mein Masterstudium in Basel statt in Köln.
Eine Rückkehr in die Türkei war kein Thema mehr?
Ganz schnell nicht mehr. Ich war so beeindruckt von allem hier in der Schweiz! Alles war so gut organisiert und strukturiert, all die Möglichkeiten. Es passte sehr zu meinem Wesen. Ich verfolge meine Ziele ziemlich konsequent und bin ein disziplinierter Mensch. In diesem Sinne: sehr schweizerisch. Mir gefiel zudem die Mehrsprachigkeit und die föderale Struktur der Schweiz.
In diesem Fall war es ein gutes Ankommen in Basel.
Ja! Nur mit der Sprache hatte ich Mühe. Ich habe dann ein Abonnement der «Basler Zeitung» abgeschlossen, wofür ich von meinen Geschwistern ausgelacht wurde. Am Anfang habe ich fast nichts in der Zeitung verstanden. Doch je länger, desto besser ging es. So bekam ich auch einiges von den lokalen Traditionen mit, die sind ja alle visuell sehr auffällig. Die Fasnacht, der Vogel Gryff, solche Dinge.
Sie kamen in den 90er-Jahren in die Schweiz. Damals war die Fremdenfeindlichkeit gegenüber Türkinnen und Türken weit verbreitet.
Es mag blöd tönen, aber für mich war das nie ein Thema. Natürlich gab es abschätzige Blicke und Sprüche, aber ich habe das immer ignoriert. Das funktionierte gar nicht schlecht.
«Für mich war von Anfang an klar, dass ich hier mitmachen wollte.»
Ihr erstes Geschäft nach dem Studium war dann ein Dönerladen, oder?
Ja, der erste in Basel! Ich hatte vorher meine Schwester in London besucht und dort gab es überall Dönerstände. So kam ich auf die Idee. Auch dafür wurden wir zuerst ausgelacht – aber es lief wirklich gut.
War von Anfang an klar, dass Sie sich auch politisch engagieren wollten?
Ja. Ich habe all die Türken und Kurden nie verstanden, die nach dem Militärputsch in den 80er-Jahren hierher flüchteten und dann in der Schweizer Politik zuschauten. Das waren alles sehr politische Menschen! Für mich war von Anfang an klar, dass ich hier mitmachen wollte.
Darum liessen Sie sich auch schnell einbürgern.
Ja. Ich habe mich relativ bald darüber informiert, welche Voraussetzungen ich erfüllen muss. Ich habe mir alle Dokumente besorgt und mich am ersten Tag nach Ablauf der Wohnsitzfrist einbürgern lassen. Das war ein sehr guter Moment.
War immer schon klar, dass Sie in die SP gehen?
Ich stamme aus einer sozialdemokratischen Familie, darum wohl ja. Aber ich habe mir vorher auch die Programme der anderen Parteien angeschaut. Ich musste dann ein Aufnahmegespräch mit einer SP-Politikerin aus dem Quartier machen. Die hat schön gestaunt, als ich im Anzug samt Krawatte zu diesem Gespräch hier am Tellplatz erschienen bin. Es war mir halt ernst!
Wo war für Sie die Integration einfacher? In der Wirtschaft oder in der Politik?
An beiden Orten gleich einfach. Dem damaligen Basler SP-Präsidenten Beat Jans war Diversity sehr wichtig. Er und andere aus der Partei ermutigten mich dazu, vorne hinzustehen, selbst als ich die Sprache noch nicht so gut beherrschte.

Sie kamen dann auch relativ schnell in den Grossrat. Wenn man am neuen Ort so erfolgreich ist, übernimmt man dann auch die neue Identität?
Ich mache hier mit und fühle mich darum als ein Teil der Schweiz. Aber Heimat kann man ganz unterschiedlich definieren. Durch die Globalisierung, durch unsere Mobilität, die kurzen Transportwege und die Digitalisierung kann man sich an vielen Orten gleichzeitig heimisch fühlen. Man kann verschiedene Heimaten haben. Heimat ist für mich der FCB, das Gundeli, Basel. Was mein Heimatgefühl stark prägt, ist das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Wenn ich an die Türkei denke, dann an meine Mamma, die inzwischen 90 Jahre alt ist. Und ich denke an ein Land mit grossen Demokratiedefiziten.
Der FCB als Heimat?
Ja! Früher konnte ich mir das auch nicht vorstellen. Ich bin in einem Umfeld aufgewachsen, das Fussball für die Verdummung der Massen verantwortlich machte und sich lieber mit Literatur und Theater beschäftigte. Heute liebe ich den FCB. Ich arbeite ja auch als Caterer im Stadion, schon sehr lange, und wenn ich während eines Spiels da bin, dann sehe ich immer so viele Menschen. Es ist ein super Treffpunkt!
«Zu Beginn als Grossrat wurde ich oft gefragt: ‹Hast du verstanden?›»
Als Sie noch im Grossen Rat sassen, hiess es immer, Sie seien der Vertreter der kurdischen Gemeinde. Hat Sie das gestört?
Solche Äusserungen wie etwa Quotenmigrant und Ähnliches hört man immer wieder. Aber mich haben sie nie entmutigt, sondern vielmehr angespornt, mich als Bildungspolitiker zu profilieren. Was mir auch gelungen ist. In erster Linie bin ich Bildungspolitiker und setze mich für die KMU und natürlich auch für meinen Kanton ein.
Verändert es die eigene politische Wahrnehmung, wenn man Vertreter einer Minderheit ist?
Ja, natürlich. Das merke ich bis heute im Nationalrat. Wenn ich einen Kollegen aus dem Tessin begrüsse, ist da ein anderes Grundverständnis.
Muss man sich mehr beweisen als Politiker mit Migrationshintergrund?
Eindeutig. Zu Beginn als Grossrat wurde ich oft gefragt: «Hast du verstanden? Brauchst du Hilfe?» Als ich dann in die Finanzkommission gewählt wurde, merkten die Mitglieder nach den ersten Sitzungen: Ah, der Atici liest tatsächlich alle Unterlagen! Danach wurde es besser. Im Nationalrat war es schon von Anfang an gut, es hat geholfen, dass ich in die Bildungskommission durfte, meine Wunschkommission.
Macht die nationale Politik genug für Migranten?
Nein. Gerade auf nationaler Ebene fehlt eine positive Grundeinstellung zu Migrantinnen und Migranten. Die sind hier, die wollen etwas machen – das sollten wir ermöglichen! Es gibt viele Lehrstellen, die nicht besetzt sind, und viele junge Ausländerinnen und Ausländer mit F-Bewilligung, die nicht arbeiten dürfen. Da sollte man etwas tun! Doch die nationale Politik bremst immer, weil sie befürchtet, dann kämen noch mehr Einwandererinnen und Einwanderer. Ein Fehlschluss. Wer kommen will, der kommt so oder so.
Viele bürgerliche Politikerinnen und Politiker hätten gern ausschliesslich Migranten wie Sie: fleissig, angepasst, diszipliniert. Damit der Staat bei der Integration nicht helfen muss.
Ja, aber dafür muss man meine Umstände betrachten. Ich kam freiwillig hierher, zum Studieren, finanziell unterstützt durch meine Familie. Vielen Flüchtlingen geht es ganz anders. Ich zähle zur privilegierten Minderheit. Ein Beispiel Atici reicht da nicht, wir müssen unsere strukturellen Probleme angehen.
Stimmen Sie eigentlich dem – ebenfalls bürgerlichen – Grundsatz zu: Wer hier mitbestimmen will, der soll sich einbürgern lassen?
Ich bin ein grosser Fan der Einbürgerung. Leider sind die Gesetze aber sehr restriktiv und nicht einheitlich. Auch darum möchte ich das Ausländerstimmrecht auf kommunaler Ebene fördern. Wo die Leute leben, sollen sie auch Verantwortung übernehmen. In über 605 Gemeinden gibt es das Stimmrecht für Ausländerinnen und Ausländer schon – ein Problem gibt es nirgends. Ich frage mich: Warum soll das nicht auch in anderen Gemeinden funktionieren?
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