Out in der Champions LeagueJuventus stürzt den Calcio in die Sinnkrise
Auf einmal steht Italien ohne Champions-League-Vertreter da. Das reisst vielleicht auch die Moral der Nationalmannschaft in die Tiefe – im dümmsten Moment.

Im Juventus Stadium lief die 87. Minute, das Spiel hatte gerade eine fatale Wende genommen für die Gastgeber, die Seele war weg, da zoomte eine Fernsehkamera Andrea Agnelli näher heran. Juves Präsident, Abkömmling der illustren Besitzerfamilie, zog an einer dünnen Zigarre und verzog das Gesicht zur Grimasse: «Ich habs ja gewusst», so mutete sie an, resigniert mit Vorahnung.
Agnelli hatte in jüngerer Vergangenheit sein ohnehin nicht sehr üppig gefülltes Sympathiekonto mit der Idee einer europäischen Super League selbst geplündert, blieb aber im Amt, weil man einen Agnelli nun mal im Amt belässt. Nun stand er auf der Tribüne und schaute zu, wie sein Team, das er zu den unverhandelbaren Fixstartern der erträumten Superliga für die Allerbesten des Kontinents zählt, einmal mehr schon im Achtelfinal der Champions League scheiterte, zum dritten Mal in Folge – gegen den FC Villarreal, Siebter der spanischen Liga, 98 Millionen Euro Jahresumsatz.
Am Ende stand es 0:3, und die «Gazzetta dello Sport» belehnt den Boxsport als Lieferanten für die passenden Bilder für eine «epochale Niederlage»: «Am Kinn getroffen, lag Juve plötzlich am Boden, hingefallen wie ein Boxer ohne jede Energie.» Und wer darin die Metapher für den italienischen Fussball lesen mag, der ist herzlich willkommen. «Madama», wie die Juventini ihre alte Dame nennen, war der letzte noch verbliebene italienische Verein im Wettbewerb.
Unter den acht Besten finden sich drei spanische und drei englische Mannschaften, dazu eine deutsche und eine portugiesische. Aber wieder keine italienische. Zwölf Jahre ist es schon her, dass sich der Calcio den Pott holte, damals war es Inter. Juves letzter Triumph liegt schon über 25 Jahre zurück.
Sogar der Schweiz unterlegen
Da kommt also gerade viel trüber Debattenstoff zusammen, der sich auch noch unheilvoll verstrickt mit den Fragen, die man sich in Italien über die amtierenden Europameister stellt. Auch die Azzurri sind nach dem Taumel eines Sommers im Zweikampf mit der Schweiz völlig eingebrochen – so sehr, dass sie in ihrer Not einige Südamerikaner eingebürgert haben, um angebliche Schwächen zu kompensieren. Kommende Woche stehen die Playoffs für eine Teilnahme an der WM in Katar an. Im Halbfinal geht es gegen Nordmazedonien, in Rom, und das sollte ja noch zu meistern sein. Aber was ist mit der Türkei oder Portugal, gegen die man danach antreten müsste?

Der Calcio, der in Italien gern auch als Gesamtkategorie gesehen wird, Vereine und Nationalmannschaft in einem Grossen und Ganzen, erlebt eine donnernde Entzauberungsphase. International war er auch schon wettbewerbsfähiger, um es mal mit einer wohlmeinenden Untertreibung zu sagen. Die Serie A beschäftigt viele Altstars, denen man huldigt, als wären sie im Vollsaft ihrer Karriere. Dazu kommt eine Schar von höchstens mittelmässigen und namenlosen Spielern aus dem Ausland, die den aufstrebenden italienischen Nachwuchskräften den Weg versperren. Das Verhältnis? 70 zu 30 Prozent.
Die Serie A ist langsam, langsamer jedenfalls als die meisten vergleichbaren Meisterschaften in Europa. Weniger körperlich, da fehlt oft die Spannung, die Intensität. Und natürlich ist der italienische Fussball übertaktisch, normalerweise: Die Azzurri von Roberto Mancini waren eine erfrischende Ausnahme, wie nun auch der grosse Arrigo Sacchi anmerkt: «Sie spielten mit Mut, mit einer klaren Idee.» Es war ein Wunder.
Vom Taktikfuchs neutralisiert
Das Spiel Juves gegen Villarreal war hingegen wieder eine schöne Illustration für die alte Tradition der Taktiererei. Wobei man sagen muss: Die erste Halbzeit gehörte zum Besten, was die Turiner in dieser Saison geleistet haben. Neuzugang Dusan Vlahovic, so etwas wie das Zukunftsversprechen in persona, erst 22 Jahre alt und für mehr als 80 Millionen Euro geholt, zeigte wieder, wie viel er mit dem Ball anstellen kann, wenn er ihn mal bekommt – und das ist viel zu selten. Juventus dominierte fast eine Stunde lang, erspielte sich Chancen, Vlahovic hämmerte den Ball einmal aus dem Nichts an die Latte.
Doch Unai Emery, der Coach der Valencianer, bisher mit seinen Vereinen vor allem Dominator der Europa League, neutralisierte den Gegner mit einer Effizienz, wie man sie sonst von den Italienern kennt. Kaum hatte Villarreal den Ball, schläferte es den Spielfluss ein. In der zweiten Halbzeit waren beide Teams vor allem darum bemüht, das Spiel nicht zu verlieren.

Bis Emery seinen besten Mann einwechselte, den eben erst genesenen Stürmer Gerard Moreno. Und dieser Moreno brauchte nur eine Viertelstunde, um den Plot neu zu schreiben: fast allein, mit Pässen in die Tiefe, mit Vertikalisierungen. 78 Minuten lang hatten die Spanier nicht einmal aufs Tor geschossen, dann gab es Penalty. 1:0. Sieben Minuten später: 2:0. Noch mal fünf Minuten später, da war Agnellis Zigarre schon aufgeraucht, gabs noch mal Elfmeter. 3:0. Drei Schüsse aufs Tor, drei Tore.
Juve ist also wieder sehr früh gescheitert, obwohl alle fanden, dass sie unerhört viel Losglück hatten. Wie vor einem Jahr, als die Turiner im Achtelfinal gegen den FC Porto ausschieden, oder im Jahr davor, als sie Olympique Lyon nicht Herr wurden. Villarreal, Porto, Lyon – alle in Ehren. Aber natürlich sind das Gegner, die allein schon das hochtrabende Selbstverständnis Juves und seines Präsidenten wegwischen müsste. Stattdessen stürzen sie den Calcio in eine Sinnkrise.
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