Langes Warten auf ein Medikament
Seit September ist das erste Medikament gegen spinale Muskelatrophie (SMA) zugelassen. Die meisten Erkrankten erhalten aber keine Therapie, obwohl das Medikament die fortschreitende Krankheit stoppen würde.

Dass ihre einjährige Tochter nicht selbstständig aufsitzen konnte, beunruhigte Nicole Gusset. Ein halbes Jahr später erhielt die Familie Victorias Diagnose: spinale Muskelatrophie (SMA), eine genetisch bedingte neuromuskläre Erkrankung. Krabbeln, Sitzen, Kopfkontrolle, Schlucken und Atmen werden mit dem Fortschreiten der Krankheit immer schwieriger. «Der Tag der Diagnose war der schlimmste Tag in meinem Leben», sagt Nicole Gusset, die die Schweizer Patientenorganisation für spinale Muskelatrophie (SMA Schweiz) gründete und präsidiert.Heute ist Victoria sieben Jahre alt. Gehen hat sie nie gelernt, aber mit ihrem elektrischen Rollstuhl kann sie das Haus selbstständig und unbegleitet verlassen. Das hat sie dem Medikament Spinraza zu verdanken, mit dem sie seit drei Jahren behandelt wird. Seither könne sie ihre Kopfhaltung besser kontrollieren, sagt Nicole Gusset. Ein Detail, würde man meinen, aber für Victoria heisst das, dass ihr Kopf nicht mehr plötzlich nach vorne kippt und ihre Atmung gefährdet.
110 000 Euro pro Spritze
Gussets Tochter ist allerdings eine von wenigen Schweizer Betroffenen, die mit dem ersten Medikament gegen SMA behandelt werden. Spinraza der US-Firma Biogen ist seit September 2017 in der Schweiz zugelassen. Es kann die fortschreitende Krankheit stoppen und motorische Fähigkeiten sogar wieder verbessern (siehe Kasten). Allerdings ist es teuer – 110 000 Euro kostet eine Injektion in Deutschland. Im ersten Jahr wird das Medikament sechsmal in die Region des Rückenmarks injiziert, danach dreimal pro Jahr. In der Schweiz ist noch nicht geregelt, wer die hohen Kosten übernimmt. Das verunmöglicht für die meisten den Zugang zur Behandlung.
Victoria Gusset nimmt an einer Studie in Deutschland teil. In der Schweiz erhalten einige Kinder das Medikament als Härtefälle gratis vom Hersteller, einzelne haben eine Kostengutsprache der Versicherungen erhalten, viele aber auch Absagen.
Anfang März haben sich Betroffene und Angehörige mit einem offenen Brief an den Bundespräsidenten Alain Berset (SP) gewandt. Sie fordern, dass Spinraza in die Geburtsgebrechen-Medikamentenliste des Bundesamts für Gesundheit (BAG) aufgenommen wird, wodurch die Versicherungen verpflichtet werden, die Behandlungskosten zu übernehmen. Bei Kindern sollte grundsätzlich die Invalidenversicherung (IV) zahlen. Die Betroffenen und ihre Familien verlangen im Brief, dass wirksame Medikamente automatisch in die für die Kostenübernahme wichtigen Listen aufgenommen werden, damit sich die Gesetzeslücke zwischen Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit schliesst.
Man sei sich bewusst, dass die Betroffenen und ihre Familien dringend auf Klärung der Kostenübernahme warten, schreibt das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf Anfrage. Daher arbeite man mit Hochdruck daran. Zum Inhalt des Verfahrens könne das BSV aus Vertraulichkeitsgründen keine Angaben machen. Einer der Knackpunkte dürfte aber der sehr hohe Preis sein. Abgestützt auf öffentliche Preisangaben aus dem Ausland können die Kosten pro Patient bei einer mehrjährigen Behandlung mehrere Millionen Franken betragen. Es dürfte also darum gehen, zu bestimmen, unter welchen medizinischen Bedingungen und zu welchem Preis das Medikament von der IV übernommen werden kann, sodass das Nutzen-Kosten-Verhältnis vertretbar ist.
Die IV ist gemäss BSV mit der Tatsache konfrontiert, dass weitere Zulassungen von sehr teuren Medikamenten für seltene Krankheiten anstehen. Es bestehe deshalb das Risiko, dass die Rechnung der IV künftig überdurchschnittlich belastet werde. Die Gespräche mit dem Hersteller liefen auf Hochtouren, schreibt das BSV, es gebe aber noch Differenzen. Es sei nicht möglich, einen Zeitpunkt für den Entscheid zu nennen. Erst wenn die Vergütung durch die IV geregelt ist, kann das BAG mit dem Verfahren zur Aufnahme eines Medikaments in die Geburtsgebrechen-Medikamentenliste beginnen.
Auch Bettina Rimensberger hat den offenen Brief an Berset unterschrieben. Die 30-jährige Wetzikerin fährt seit ihrem 3. Lebensjahr einen Elektrorollstuhl, seit 15 Jahren kann sie nicht mehr schlucken und wird durch eine Magensonde ernährt. Ein Beatmungsgerät kompensiert die Kraft, die ihr zum Atmen fehlt.
Nur noch der linke Zeigefinger
Heute kann sie nur noch den Zeigefinger ihrer linken Hand bewegen. Damit schreibt sie auf dem Smartphone und auf dem Touchpad des Laptops. Da ihr das Sprechen sehr schwer fällt, ist das Schreiben essenziell für Bettina Rimensberger, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Zürich arbeitet. Doch das Schreiben wird für sie immer anstrengender.
Sie verspricht sich vom neuen Medikament primär, die Kraftin der Hand zurückzugewinnen. «Jede noch so kleine gesundheitliche Verbesserung würde meine Lebensqualität massgeblich positiv beeinflussen», schreibt sie per E-Mail. Die aktuelle Situation sei frustrierend und zermürbend. Täglich sehe sie in den sozialen Medien Erfolgsmeldungen von Kindern und Erwachsenen mit SMA im Ausland, die mit Spinraza behandelt werden. Ihr und vielen anderen Schweizer Betroffenen bleibt die Behandlung aber vorenthalten. «Ich bin machtlos und muss hilflos erleben, wie ich täglich schwächer werde.»
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