Integration in WinterthurLehrer am Morgen, Schüler am Nachmittag
Saeed Mandegar wartet seit rund vier Jahren auf seinen Asylentscheid. Beim Solinetz in Winterthur ist er nicht nur Schüler, sondern unterrichtet auch andere Geflüchtete – mit vollem Körpereinsatz.

Das Schulzimmer im alten Busdepot ist an diesem Freitag fast bis auf den letzten Platz belegt. Die Klasse sitzt vor aufgeklappten Kartonboxen voller Stifte und Vokabel-Kärtchen. Saeed Mandegar startet seinen Unterricht pünktlich um acht Uhr und kündigt direkt eine Prüfung für Montag an. Die Klasse nimmt die Nachricht ohne Murren auf. Dann erklärt Mandegar den Unterschied zwischen «Schwester» und «Geschwister» und konjugiert das Wort «ankreuzen», das durchaus nützlich ist, wenn man viel mit Behörden zu tun hat. Dazu zeichnet Mandegar drei Kästchen an die Tafel, wie man sie von offiziellen Formularen kennt: A, B und C.
Die meisten in der Klasse sind erst seit wenigen Monaten in der Schweiz. Wie sie steckt auch Mandegar noch mitten im Asylprozess. «Wir hatten ein paar Probleme und mussten das Land verlassen», erzählt Saeed, der vor rund vier Jahren vom Iran in die Schweiz flüchtete. Aktuell hat er den N-Ausweis. Das heisst, dass er noch auf seinen Asylentscheid wartet. In dieser Zeit darf der gelernte Elektroingenieur nicht arbeiten. «Wir werden ein bisschen wie Bürger zweiter Klasse behandelt», sagt Mandegar und lacht. Trotzdem sei er zufrieden. Seine Tochter hat in der kurzen Zeit den Sprung ans Gymnasium geschafft: «Sie ist wirklich sehr fleissig», sagt er stolz.
«Ufzgi» und «Bölle»
Der Verein Solinetz bietet in Winterthur seit 2015 Deutsch-Intensivkurse für Flüchtlinge an. Momentan sind es 15 Kurse, in denen 90 Freiwillige insgesamt 180 Teilnehmende unterrichten. Kostenlos und an fünf Tagen pro Woche. Die Kurse beginnen jeweils mit Repetition. Die Schüler schreiben für jedes gelernte Wort eine Satzkarte: «Ich singe gerne Pop-Lieder», liest Sascha, ein LKW-Fahrer aus der Ukraine, vor. «Wirklich?», fragt Mandegar. «Nein», antwortet Sascha. Saeed Mandegar und Nefise Kuyumcu, die Klassenassistentin, machen die Runde und fragen alte Karten ab.



Bei einem Schüler zuckt Mandegar bei jedem Wort zusammen und verzieht das Gesicht schmerzverzerrt. «Heute warst du nicht sehr gut. Ich gebe dir einen ‹Bölle›», sagt der 44-Jährige streng. Beim «Bölle» handelt es sich um einen Strafpunkt, der auf einer Tabelle an der Wand eingetragen wird. Zum Beispiel, wenn jemand die Hausaufgaben vergisst. Wer in einer Woche drei solcher Punkte sammelt und sich in der Woche darauf nicht bessert, verliert seinen Kursplatz. Der Grund dafür ist die hohe Nachfrage nach A1-Kursen. Aktuell stehen 20 Personen auf der Warteliste.
Weil Solinetz mit Freiwilligen arbeitet, werden die Deutschkurse vom Kanton Zürich nicht anerkannt. Dieser weist dem Verein laut Solinetz trotzdem viele Flüchtlinge zu – weil es nicht genug akkreditierte Plätze gibt –, etwa aus dem Durchgangszentrum Sonnenbühl in Oberembrach. Das Projekt «Geflüchtete unterrichten Geflüchtete» startete vor vier Semestern. Constanze Schade, Initiantin und Präsidentin von Solinetz Winterthur, ist sehr zufrieden. Der Vorteil sei die Begeisterung der inzwischen 20 Flüchtlingslehrpersonen: «Sie wissen aus nächster Nähe, wie man zur Sprache kommt, welche Schwierigkeiten es gibt und dass man mit Ausdauer weiterkommt.»
«Jeder von ihnen hat einen Traum in der Schweiz.»
Bei Solinetz ist Mandegar nicht nur Lehrer (an zwei Tagen), sondern auch Schüler: «Vormittags unterrichte ich, nachmittags besuche ich den C1-Kurs.» Als Lehrer bewegt er sich wie ein Dirigent durchs Klassenzimmer. Er redet mit den Händen, zieht die einzelnen Worte in die Länge und lockt die etwas Scheueren mit einem lustigen Spruch aus der Reserve. «Ich habe viel von meiner Mutter gelernt», sagt Mandegar. Sie war Lehrerin, wie auch seine Tante. Auch das Auftreten ist er sich gewohnt. Im Iran spielte er persische Musik in einer Band – und trat oft an Hochzeiten auf.
Yasser hebt die Hand: «Wir haben noch Hausaufgaben auf Seite 19», erinnert er den Lehrer. Er ist nicht der Einzige, der an diesem Morgen mit seiner Motivation auffällt. Sascha und Mustafa haben eine Aufgabe, die sie in der Stunde machen sollten, schon daheim erledigt. Dabei geht es um Zahlen: «Im Deutschen wird wie im Arabischen zuerst die hintere Zahl genannt. Also Fünf und Achtzig.» Mit seiner Klasse ist Saeed Mandegar sehr zufrieden: «Jeder von ihnen hat einen Traum in der Schweiz», sagt er.



Es geht in den Kursen nicht nur ums Deutschlernen, sondern auch um Gemeinschaft. In einer der Übungen gilt es etwas über den Tischnachbarn herauszufinden. Über Hayfaa zum Beispiel, dass sie gerne Domino spielt und zum Kochen keine Rezepte braucht. Nebenbei erklärt XY die Schweizer Kultur. Zum Beispiel, dass man Freunde duzt und Fremde eher siezt: «Ihre bedeutet Respekt.» Als Hausaufgabe muss die Klasse daheim deutsche Sätze in die jeweilige Muttersprache übersetzen. Bevor nach zehn Uhr die nächste Klasse kommt, sagen die Teilnehmenden der Reihe nach das Wort «ledig» auf Ukrainisch, Georgisch, Arabisch, Türkisch, Tigrinya und Tamilisch. Der junge Mann aus Sri Lanka sagt das lange Wort so schnell, dass die Klasse in Gelächter ausbricht.
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