Britische Asylpolitik unter BeschussLondon will Abschiebeflüge nach Ruanda um jeden Preis durchsetzen
«Total unmenschlich» und «geradezu unglaublich»: Aktivisten, Politiker, Prominente und Kirche geisseln die Asylpläne der Johnson-Regierung. Diese gibt sich unbeeindruckt.

Grossbritanniens Regierung will sich vom Einspruch europäischer Richter und von empörten Protesten prominenter Briten gegen ihre Flüchtlingspolitik nicht vom Plan der Abschiebung Tausender von Asylbewerbern nach Ruanda abbringen lassen – obwohl der erste Abschiebeflug dieser Art in der Nacht auf Mittwoch unter spektakulären Umständen abgesagt werden musste von Innenministerin Priti Patel.
Die Innenministerin sagte am Mittwoch im Parlament, sie sei «sehr überrascht» und «enttäuscht» gewesen von einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Dienstagabend, das die schon bereitstehende erste Maschine mit sieben Flüchtlingen an Bord in letzter Minute am Abflug hinderte. Sie lasse sich aber «nicht abhalten» davon, «das Richtige zu tun», versicherte Patel. Weitere Vorbereitungen zur Verfrachtung von Asylbewerbern nach Afrika seien bereits im Gang.
Hintergrund der umstrittenen Flüge ist eine Vereinbarung zwischen Grossbritannien und Ruanda vom April dieses Jahres, die vorsieht, dass Ruanda in den nächsten Jahren Zehntausende von Asylbewerbern aus dem Vereinigten Königreich aufnimmt und dafür Hunderte von Millionen Pfund an Entwicklungshilfe erhält.
«Illegale Migranten» sollen abgeschreckt werden
Die ruandischen Behörden sollen in eigener Regie entscheiden, wer ein Aufenthaltsrecht in Ruanda erhält und wer in sein Ursprungsland zurückbefördert wird, selbst wenn er von dort geflohen ist. Mit der Massendeportation hofft London den anhaltenden Zustrom von Menschen über den Ärmelkanal zu stoppen und potenzielle Bootsflüchtlinge – die man als «illegale Migranten» betrachtet – von der Überfahrt abzuschrecken.
Der Plan war allerdings von Anfang an auch in Grossbritannien heftig umstritten und ist von Oppositionspolitikern, Menschenrechtsanwälten und Flüchtlingsorganisationen als «total unmenschlich» und «geradezu unglaublich» verurteilt worden. (Lesen Sie auch den Artikel «Abschiebestation Ruanda».)
In einer Sonderentscheidung stoppte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den ersten Abschiebeflug.
Für den Dienstag dieser Woche hatte die Regierung den ersten Abschiebeflug angesetzt. Eine Boeing 767, die angeblich für eine halbe Million Pfund gechartert worden war, stand auf dem Militärflugplatz von Boscombe Down in der Grafschaft Wiltshire bereit. Von den ursprünglich vorgesehenen 130 Flüchtlingen, die an diesem Tag nach Ruanda geflogen werden sollten, befanden sich allerdings nach juristischen Eingaben wenige Stunden vor dem Start nur sieben an Bord.

Tatsächlich hatten mehrere hohe britische Gerichte im Laufe des Dienstags, in separaten Verfahren, das Recht der Regierung auf Deportation der betreffenden Asylbewerber bekräftigt. In einer Sonderentscheidung am Abend stoppte aber der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Flug. Das Strassburger Gericht verpflichtete die britische Justiz darauf, die Legalität der Massnahme nicht nur der Form nach, sondern auch in der Substanz zu überprüfen. Das soll im nächsten Monat geschehen.
Nachdem die Regierung von Boris Johnson diese Woche bereits in Sachen Brexit und Nordirland auf scharfen Kollisionskurs mit den Europäern gegangen ist, wittern nationalkonservativ gestimmte Briten in der Flüchtlingsfrage erneut «ausländische Bevormundung».
Brexit-Entscheid betrifft nicht Strassburger Gericht
Unterdessen erklärte Ministerin Patel, sie werde dafür sorgen, dass in Grossbritannien dem Willen des Volkes nach Sicherung der britischen Grenzen Rechnung getragen werde. Die Londoner Rechtspresse bestärkte die Regierung in dieser Position der Härte. Die besonders einflussreiche «Daily Mail» warnte vor der «Einmischung» europäischer Richter in britische Angelegenheiten.
Dabei hat das Strassburger Gericht nichts zu tun mit der EU, aus der Grossbritannien ausgetreten ist. Es ist das höchste Rechtsorgan des Europarats, zu dessen 46 Mitgliedsstaaten auch das Vereinigte Königreich gehört. Tatsächlich waren die Briten an der Gründung des Gerichtshofs 1959 wesentlich beteiligt. Acht Jahre zuvor, 1951, war Grossbritannien sogar der allererste Staat gewesen, der die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnete, an der sich heute der Strassburger Gerichtshof orientiert.
Von Boris Johnson ist in den letzten Jahren aber erwogen worden, die Verankerung der Menschenrechtskonvention im britischen Recht wieder aufzuheben. Diese Woche spielte der Premier erstmals auch auf die Möglichkeit an, dass sich sein Land der Jurisdiktion Strassburgs entziehen könnte, um seine Abschiebepolitik ungestört durchführen zu können.
Die Führungsriege der Kirche von England hat das Abschiebekonzept als «Schande für Grossbritannien» eingestuft.
Generalstaatsanwältin Suella Braverman, die als Ministerin mit im Kabinett sitzt, erklärte, man behalte sich einen solchen Rückzug jedenfalls vor. Zu schaffen macht der Regierung freilich, dass ausser Oppositionspolitikern und Wohlfahrtsverbänden auch immer mehr Angehörige des britischen Establishments die Massendeportation nach Ruanda verurteilen.
Nachdem jüngst bereits Prinz Charles die Flüge in einem privaten Gespräch angeblich «empörend» genannt hatte, hat die gesamte Führungsriege der Kirche von England das Abschiebekonzept als «unmoralische Politik» und als «eine Schande für Grossbritannien» eingestuft. Verurteilt worden ist der Plan auch von hohen Repräsentanten anderer Konfessionen und von landesweit bekannten Sportlern, Künstlern, Schauspielern und Autoren.
Im Mai kamen 3152 Migranten in kleinen Booten
Lord Paddick, ein liberaldemokratischer früherer Vizepolizeichef Londons, ist wie viele Regierungskritiker auch davon überzeugt, dass die Ruanda-Flüge keineswegs die abschreckende Wirkung haben, die ihnen von der Regierung zugeschrieben wird. Für die Zahl der Menschen, die den Kanal zu passieren suchten, mache das «gar keinen Unterschied».
Am Dienstag allein waren es 260 Personen, darunter auch Kinder, grösstenteils aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Für den Monat Mai wurden 3152 Menschen gezählt, die in kleinen Booten in England ankamen. Für die Sommerwochen rechnet man mit neuen Rekordzahlen. Viele der Flüchtlinge, die die gefährliche Überfahrt wagen, wissen offenbar nicht, dass sie in Ruanda landen könnten statt in dem Land, das sie angesteuert haben.
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