Erzwungene Ryanair-Landung in Minsk«Man startet keine Diskussion mit einem Kampfjet»
Was passiert, wenn eine Militärmaschine ein Passagierflugzeug abfängt? Und wie verändert der Vorfall in Weissrussland die Vorgehensweise der Piloten?

Es ist eine Ausnahmesituation für die Piloten von Flug FR4978 des polnischen Ryanair-Ablegers Ryanair Sun. Auf dem Weg von Athen nach Vilnius überfliegen sie weissrussisches Gebiet, wo ihnen kurz nach der Grenze eine Falle gestellt wird: Nur zwei Minuten nach der ersten Kontaktaufnahme mit der weissrussischen Flugverkehrskontrolle werden die Ryanair-Piloten von dieser über eine Bombe an Bord ihres Flugzeugs informiert. Dies geht aus einer Funkabschrift hervor, die im Internet veröffentlicht wurde, aber noch inoffiziellen Charakter hat.
Die Piloten setzen ihren Flug nach Litauen demnach lange Zeit unbeirrt fort und fordern von der weissrussischen Flugverkehrskontrolle weitere Angaben zur Bombendrohung. Man habe eine E-Mail der Palästinensergruppe Hamas erhalten, antwortet Minsk, die Bombe werde «über Vilnius» losgehen. Die Piloten wollen diese Auskunft offenbar bestätigen lassen, sie versuchen nun, Kontakt mit ihrer Airline aufzunehmen, und fliegen auf der bisherigen Flughöhe von knapp 12’000 Metern weiter.
Noch kurz vor der Grenze zu Litauen ist das weitere Vorgehen nicht klar, wie aus den Flugdaten von Flightradar 24 hervorgeht. Normalerweise hätte die Boeing 737-800 jetzt bereits den Landeanflug auf Vilnius begonnen. Stattdessen bleiben die Piloten auf der Flughöhe von rund 12’000 Metern, sie beschäftigten sich also vorerst nur mit der ausserordentlichen Situation.
Die Leitstelle drängt die Crew mehrmals zu einer Kursänderung nach Minsk. Die Piloten wollen dann wissen, wer diese «Empfehlung» abgegeben habe, der Startflughafen Athen oder der Zielflughafen Vilnius. Die Leitstelle sagt, das sei ihre eigene Empfehlung. Dann gelingt der Crew endlich die Kontaktaufnahme mit der Airline. Die Flugverkehrskontrolle drängt den Ryanair-Flug weiter zu einer Entscheidung über das weitere Vorgehen, wenige Minuten später folgen die Piloten dann den Anweisungen doch noch, funken «Mayday, Mayday, Mayday» und ändern ihren Kurs – anstatt des viel näher gelegenen Flughafens von Vilnius, der in einer Notlage der beste Landeplatz gewesen wäre, steuern sie nun das rund dreimal weiter entfernte Minsk an.
Ryanair: «Sehr beängstigend»
Dort landen sie eine halbe Stunde später, gemäss weissrussischen Angaben werden sie dabei von einem Kampfjet des Typs MiG-29 eskortiert. Eine sofortige Evakuation der Passagiere aufgrund der Bombendrohung gibt es in Minsk nicht, diese stehen nach Zeugenberichten auch nach dem Aussteigen noch lange neben dem Flugzeug auf dem Rollfeld – also eigentlich in unmittelbarer Gefahr, wenn die Bedrohung echt wäre. Das Durchsuchen des Gepäcks nach einer Bombe wird von den Passagieren aber eher als Schauspiel wahrgenommen, wie sie später berichten. Dafür wird der weissrussische Oppositionelle Roman Protassewitsch verhaftet.

Die erzwungene Landung in Weissrussland wird mittlerweile als «Entführung» untersucht, die EU und die Schweiz haben erste Sanktionen ergriffen. Auch Ryanair-Chef Michael O’Leary spricht am nächsten Tag von «staatlich unterstützter Entführung und Piraterie». Er muss mittlerweile direkte Infos seines Personals erhalten haben und sagt weiter, der Vorfall sei für Passagiere und Crew «sehr beängstigend» gewesen. Gar ein Albtraum ist es für den 26-jährigen Protassewitsch, um den es beim ganzen Manöver offensichtlich geht. Statt aus Griechenland in sein Exil in Litauen zurückzukehren, fällt er in die Hände seiner Feinde. Ihm droht eine lange Haftstrafe, offenbar wurde er im Gefängnis bereits gefoltert und zu einem Geständnis gezwungen.
Mit Abschuss gedroht?
Die Bombendrohung war fingiert, so sieht es die EU, so sehen es die westlichen Staaten. Ein Hinterhalt, in den die Ryanair-Piloten unmittelbar nach dem Eintritt in den weissrussischen Luftraum gerieten. Gemäss «standard operating procedure» wäre für Flug FR4978 aber trotz der Gefahr eine Landung in Vilnius, dem nächstgelegenen Flughafen, vorgesehen gewesen. Ein Vorgang, den die weissrussische Flugverkehrskontrolle mit dem Zusatz, dass die Bombe «über Vilnius» hochgehen sollte, verhindern wollte.
Als sich die Piloten davon nicht beirren liessen, wurde die Ryanair-Maschine offenbar von einem Kampfjet abgefangen. Der weissrussische Präsident Alexander Lukaschenko soll dies persönlich angeordnet haben, berichteten staatliche Quellen danach gleich selber. Mittlerweile heisst es, die MiG-29 habe das Passagierflugzeug aus Sicherheitsgründen begleitet.
Dem stehen Berichte gegenüber, dass die Flugverkehrskontrolle den Piloten mit einem Abschuss gedroht habe – Weissrussland dementiert dies. Das Abdrehen kurz vor der Landesgrenze, das Aufsteigen der MiG-29 und die Entführungs-Aussage vonseiten Ryanair lassen unweigerlich darauf schliessen, dass die Piloten um die Sicherheit ihres Flugzeugs fürchteten – und zwar nicht aufgrund der fingierten Bombendrohung, sondern wegen des Kampfjets.
«Man diskutiert nicht mit einem Kampfjet»
Fängt eine bewaffnete Militärmaschine ein Passagierflugzeug ab, dann gibt es für die Piloten keine Wahlmöglichkeiten mehr. «Man diskutiert nicht mit einem Kampfjet», sagen von der Nachrichtenagentur Reuters befragte Piloten. «Man hinterfragt dann auch nicht das Motiv.» Offensichtlich war die Ryanair-Crew zuvor kritisch und nahm weitere Abklärungen zur angeblichen Bombendrohung vor, suchte den Kontakt mit den eigenen Leuten am Boden. Sie wollte nicht so recht in die gestellte Falle tappen, weshalb Weissrussland wohl Plan B zur Hilfe nahm, als Lukaschenko seine Chancen schwinden sah, den Oppositionellen Protassewitsch in die Hände zu kriegen.

Dass ein Kampfjet überhaupt eine Passagiermaschine abfängt, ist bereits als diplomatischer Zwischenfall zu werten. Betroffen ist dabei zuallererst der Staat, in dem das Flugzeug registriert ist, in diesem Fall Polen, wo sich der Hauptsitz von Ryanair Sun befindet. Polens Präsident war denn auch der Erste, der eine «Entführung» und «Staatsterrorismus» anprangerte und sofortige Untersuchungen der EU forderte.
Militärflugzeuge eilen Passagiermaschinen normalerweise zur Seite, wenn die Sicherheit der Passagiere an Bord oder der Menschen am Boden bedroht ist. Möglich ist das beispielsweise auch, wenn der Funkkontakt verloren geht. «Seit den Anschlägen am 11. September 2001 reagiert die Flugsicherung sehr nervös, wenn es mal keinen Funkkontakt gibt», erklärte ein Pilot der britischen BBC. Um auszuschliessen, dass ein Flugzeug entführt und wie in New York oder Washington als Waffe eingesetzt wird, steigen dann Kampfjets auf, um die Lage zu klären.
Kampfjet gibt Zeichen
Eine Militärmaschine setzt sich dabei links vor das Passagierflugzeug, sodass der Captain, der links sitzt, den Jet sieht. Eine zweite Maschine kann sich rechts oder hinter dem Flugzeug positionieren. Kann kein Funkkontakt mit dem Cockpit hergestellt werden, geben die Kampfjets mit Lichtsignalen oder Flugmanövern Anweisungen an die Crew. «Wackelt» der Jet mit den Flügeln, heisst das: Folge mir. Was als Befehl zu verstehen ist, dessen Nichtbefolgung nicht zur Diskussion steht, wie Piloten erklären.
Die Piloten ihrerseits können ihre Lage auch mittels Transpondercodes an den Boden übermitteln. Setzen sie beispielsweise den Code 7500 ab, wurde das Flugzeug entführt. Code 7700 steht für einen Luftnotfall.

Die ungeplante Zwischenlandung der Ryanair-Boeing lief zwar problemlos ab; eine solche könnte die Piloten aber auch vor einige Probleme stellen. Dann etwa, wenn die erzwungene Umleitung auf einen unbekannten Flughafen führt, die Wettersituation vor Ort nicht bekannt ist oder notwendige Manöver zuerst vorbereitet werden müssen. Im Falle der polnischen Ryanair Sun kann davon ausgegangen werden, dass der Flughafen des benachbarten Landes bekannt war, zudem stand die Landung sowieso bevor, sodass die Piloten kaum in gröbere Schwierigkeiten gerieten. Gegenüber der BBC beschreibt ein Insider aber mögliche Probleme: «Du wirst in eine völlig andere Situation geworfen, hast nicht mehr die Kontrolle über den Flugplan, was auch deine Lagebeurteilung einschränkt.»
Internationale Regeln ausgehebelt
Das Abfangmanöver widerspricht auch internationalen Luftverkehrsregeln. So ist das Recht, vom Heimatstaat aus ein fremdes Land zu überfliegen, ohne dort zu landen, die erste von neun sogenannten Luftfahrtfreiheiten. Dies sind die Grundrechte in der Fliegerei, die es in ähnlicher Form bereits seit 1919 gibt. Die Freiheiten gewährleisten den freien Passagierverkehr in der gesamten Welt. Weissrussland hat diese erste Regel mit der erzwungenen Landung ausgehebelt und kratzt damit auch an den Freiheiten insgesamt.

Piloten können sich dieser Grundregeln eigentlich überall sicher sein, auch bei Flügen nach oder über Nordkorea. Der Vorfall in Weissrussland könnte diese Sicherheit aber ändern, und das ist wohl auch genau das Ziel der Übung (lesen Sie hier unseren Kommentar dazu). Die Feinde von Autokraten und Diktatoren werden mit zunehmender Verbissenheit auch im Ausland verfolgt und ermordet, schreibt «The Atlantic» in einer Analyse. Russland hat ehemalige Agenten in Grossbritannien vergiftet, Saudiarabien hat einen Journalisten in der Türkei umbringen lassen, und China stellt seinen Bürgerinnen und Bürgern auf der ganzen Welt nach.
Vertrauensverlust für Piloten?
Wenn Weissrussland mit der Entführung durchkomme, könne das Vorgehen zur Blaupause für andere Despoten werden. Mittels Kampfjets werden Passagierflugzeuge zur Landung gezwungen, um unliebsame Gegner in Gewahrsam zu bringen, so die Horrorvorstellung einer unsichereren Luftfahrt der Zukunft. Denn selbst wenn man selber nichts zu befürchten hat, gehört weder eine Umleitung auf einen anderen Flughafen mit Sicherheitsüberprüfungen noch die Begleitung durch einen zu allem bereiten Kampfjet zu einer angenehmen Reise.
Und für Piloten hat der Zwischenfall noch eine andere, beunruhigende Komponente. Die Flugsicherung ist normalerweise die verbündete Stelle am Boden, die Cockpit-Crew verlässt sich auf deren Angaben. Wenn diese nun aber Bombendrohungen erfindet, um ein Flugzeug an einen anderen Flughafen zu locken, müssen sich Piloten künftig stets überlegen, ob sie der Leitstelle trauen sollen oder ob eine politische Agenda hinter den Anweisungen steckt. Ist die Sicherheitsbedrohung dann aber real, geht so möglicherweise wertvolle Zeit verloren.
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