
Seit fünfhundert Jahren verfolgt die Schweiz eine neutrale Aussenpolitik. Auf der ganzen Welt gilt sie als Muster eines neutralen Staates. Doch das steht heute auf der Kippe. Angesichts von massivem Druck aus dem Ausland wirkt die Schweiz sehr verunsichert. Einige sehen den Sinn der Neutralität nicht mehr ein. Sie erachten diese als alten Zopf. Andere anerkennen den Wert der Neutralität durchaus, sind jedoch nicht bereit, dafür einzustehen, wenn es etwas kostet.
Einige Beispiele: Da nehmen Parlamentarier beim Export von Kriegsmaterial dem Bundesrat jeglichen Handlungsspielraum. Achtzehn Monate später machen sie rechtsumkehrt. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine verlangen sie, dass der Bundesrat per Notrecht die Wiederausfuhr von Kriegsmaterial in die Ukraine genehmige. Per Notrecht, als ob man mit unserer Demokratie so jonglieren könnte!
«Es gibt keine Neutralität ohne Neutralitätspolitik.»
Oder der Bundesrat: Nachdem die EU das erste Sanktionspaket gegen Russland verhängt hatte, entschied er, die Schweiz schliesse sich dem Sanktionsregime nicht an, sondern prüfe alle Massnahmen individuell. Doch drei Tage später hiess es: Fehlmeldung – der internationale Druck wird zu gross, wir übernehmen die Sanktionen voll.
Oder einige Schreibtischstrategen möchten die Annäherung an die Nato schleunigst vorantreiben. Selbst gemeinsame Übungen erachten sie für unproblematisch. Neutralität? Das war gestern.
Das sind bedenkliche Entwicklungen. Sie vertragen sich nicht mit einer glaubwürdigen Neutralität. Wenn wir die gegenwärtigen Probleme bewältigen wollen, müssen wir unseren Erfahrungsfundus mehr berücksichtigen. Was heisst das konkret?
Einige empfehlen, die Schweiz solle sich nur an das rechtliche Minimum halten, ansonsten jedoch Partei ergreifen. Aber das ist eine Illusion. Es gibt keine Neutralität ohne Neutralitätspolitik.
«Das Trauerspiel, das wir derzeit erleben, müsste nicht sein.»
Andere meinen, die Neutralität sei in der Vergangenheit gut gewesen, hätte aber heute keine Berechtigung mehr. Diese Leute sind geschichtsblind. Schon 1848 wollten viele Radikale die Neutralität liquidieren, um den Republikanern im Ausland zu Hilfe zu eilen. Die Neutralität hätte nur etwas getaugt, solange die Schweiz von Monarchien umgeben war. Die liberale Mehrheit jedoch entschied, sie gelte unter allen Umständen.
Einige meinen, im Zeitalter der kollektiven Sicherheit sei die Neutralität ein Anachronismus. Theoretisch ist das richtig. Aber wie funktioniert die kollektive Sicherheit? Meistens gar nicht. Daher legitimiert das häufige Versagen der UNO die Neutralität stets von neuem.
Viele tun sich schwer mit der Ausfuhr von Kriegsmaterial. Aber das Trauerspiel, das wir derzeit erleben, müsste nicht sein. Man könnte die Erklärung über die Nicht-Wiederausfuhr im Kriegsmaterialgesetz schlicht streichen. Der Grundsatz muss lauten: Die Schweiz liefert keine Waffen an kriegführende Parteien. Dafür übernimmt sie die Verantwortung. Was jedoch die Abnehmer von Schweizer Rüstungsgütern später damit machen, liegt in deren Verantwortung. Das wäre eine klare und neutralitätskompatible Regelung.
Paul Widmer, langjähriger Diplomat, ist Sachbuchautor. Zuletzt: Bundesrat Arthur Hoffmann. Aufstieg und Fall. NZZ Libro 2017.
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Gastbeitrag zur Neutralität – Mehr konsequentes Denken!
Man ist neutral, oder man ist es nicht. Es gibt keine Zwischenstufe von halb neutral. Denn das Wesen der Neutralität ist die Unparteilichkeit. Entweder ist man unparteilich, oder man ergreift Partei.