«Mit Krieg kann Israel nichts gewinnen»
jerusalem. Im Konflikt zwischen Israel und der Hamas versuchten gestern Politiker und Diplomaten weiter, eine Waffenruhe zu erreichen. Sollte sie erfolglos bleiben, könnte sich der Konflikt laut Nahostexperte Michael Lüders auf die ganze Region ausbreiten.
Trotz internationalen Warnungen vor den katastrophalen Folgen eines neuen Krieges im Nahen Osten kann eine israelische Bodenoffensive im Gaza-Streifen weiterhin nicht ausgeschlossen werden. Halten Sie, Herr Lüders, es für möglich, dass Israel vielleicht doch auf einen Einmarsch verzichtet?
Michael Lüders*: Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es die Regierung in Jerusalem bei Drohungen belässt. Sie hat darüber hinaus ihre Waffentechnik zur Abwehr von Raketen, den «Iron- dome», bereits getestet. «Haaretz»-Kommentatoren interpretieren diesen Konflikt auch als einen Testlauf für einen Krieg gegen den Iran, von dem sich Premierminister Netanjahu innerlich noch längst nicht verabschiedet hat
Welche anderen Optionen hätte Israel?
Die israelische Regierung hat sich selbst unter Zuzwang gebracht, indem sie massiv in den Grenzregionen aufmarschiert ist, 16 000 Reservisten einberufen hat. Das muss natürlich gerechtfertigt werden. Ob diese Bodentruppen einmarschieren, wird vermutlich in den nächsten Stunden oder Tagen entschieden. Sicher ist, dass Israel durch diesen Krieg nicht wirklich etwas zu gewinnen hat.
Seit der letzten Offensive der Israelis im Gaza-Streifen hat sich die arabische Welt verändert. Ägypten wird von Islamisten regiert. Tunesien auch und in Syrien gewinnen salafistische Gruppierungen an Einfluss. Sollte Netanjahu vor diesem neuen Hintergrund dennoch eine Bodenoffensive starten, mit welchen Folgen wäre dann zu rechnen?
Dann werden die Ereignisse unkontrollierbar werden. Denn die Rahmenbedingungen haben sich für Israel geändert. Es gibt keinen Hosni Mubarak mehr, der als Ansprechpartner für israelische Interessen zur Verfügung steht. Sollte es zu einer Eskalation kommen, dann gerät die ägyptische Diplomatie in ein schwieriges Fahrwasser. Die von Muslimbrüdern getragene Regierung müsste dann natürlich den Interessen der Palästinenser Rechnung tragen, ihnen solidarisch zur Seite stehen. Anderseits kann Kairo den Friedensvertrag mit Israel nicht riskieren. In jedem Fall würde ein Krieg, der länger andauert, auch auf den sehr instabilen Sinai übergreifen, ein Gebiet, das grösser ist als die Schweiz. Die Gefahr ist gross, dass dieser Krieg, wenn er denn in vollem Umfang stattfindet, ausser Kontrolle gerät und Ereignisse eintreten, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können.
Zum Beispiel?
Wir haben Instabilität in Jordanien, wo am Freitag erneut der Sturz des Königs gefordert wurde, und dem Libanon; der Bürgerkrieg in Syrien greift auch auf die Türkei über. In dieser Situation, in der islamische Extremisten überall im Auftrieb sind, kann man sich einen Krieg im Gaza-Streifen nicht wünschen wollen.
Glauben Sie, dass im Falle einer neuen Bodenoffensive auch die Hisbollah eine neue Front eröffnen würde?
Nichts ist unmöglich. Aber ich denke, dass sich die Hisbollah in dieser Frage sehr zurückhalten wird. Es hängt auch davon ab, wie sich der Iran positioniert. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass man ein Interesse daran hat, in diesen Konflikt hineingezogen zu werden.
Was wäre dann das strategische Ziel? Israel ist militärisch nicht zu besiegen. Dennoch bleibt es abzuwarten, welchen Lauf die Dinge im Falle einer Bodenoffensive nehmen. Die Stimmung in der arabischen Welt wird dann sehr unangenehm werden.
Wie wird Damaskus reagieren? Könnte Assad, sollte der Druck auf ihn weiter zunehmen, ebenfalls zum Mittel des «Game Change» greifen?
Er hat ja nichts zu verlieren. Sollte er einen Angriff auf Israel jedoch wagen, würde er den Weg für eine westliche Militärintervention in Syrien ebnen, was er jetzt wohl nicht riskieren will. Aber wer will denn ausschliessen, dass nicht radikale Islamisten Raketen in Richtung Israel abfeuern.
Der Emir von Qatar war erst vor drei Wochen im Gaza-Streifen. Eines seiner Ziele war die Stärkung der Hamas, die der Emir als eine moderate Kraft sieht, die von weitaus radikaleren salafistischen Gruppierungen bedrängt wird. Was ist von diesen Gruppierungen zu erwarten?
Es ist zu befürchten, dass die radikalen salafistischen Kräfte, zu denen die Hamas nicht unbedingt gezählt werden kann, weiter an Stärke und Einfluss gewinnen würden. Dennoch sind Voraussagen zum jetzigen Zeitpunkt sehr schwierig. Wir haben einfach zu viele unbekannte Faktoren in den Gleichungen, die jetzt bestehen. Sicher ist: Wenn man jetzt ein weiteres Streichholz in das Pulverfass Nahost wirft, dann wird es explodieren.
Noch einmal zurück nach Syrien und dem Gaza-Streifen. Sowohl in Syrien als auch im Gaza-Streifen gewinnen extremistische Kräfte an Einfluss. In Syrien wird aber herzlich wenig unternommen, um radikalen Gruppierungen das Wasser abzugraben. Man hat eher den Eindruck, man versucht sie zu instrumentalisieren, um Assad loszuwerden. Wie erklären Sie sich dieses doch recht gefährliche Spiel?
Das ist natürlich sehr widersprüchlich, hat aber mit Geopolitik zu tun. Im Gaza-Streifen fordert die Hamas Israel heraus. Und in Syrien sind die Islamisten Agenten eines Regimewechsels, der sich gegen ein proiranisches Regime richtet. Insofern ist man hier sehr flexibel. Und diese Flexibilität ist auch ein Hinweis darauf, dass man diese Konflikte nicht immer in ideologischen Kriterien erfassen sollte. Es geht immer nur um Machtpolitik und nicht mehr um irgendwelche ideologischen Vorbehalte.
Aber eine Garantie, dass die westlichen Kalkulationen aufgehen, gibt es nicht.
Ganz genau. Man kann viele Zauberlehrlinge bestellen und am Ende die Kontrolle über sie verlieren. Das scheint in Syrien bereits passiert zu sein. Nicht nur Syrien, die Region ist extrem instabil. Wir haben revolutionäre Umbrüche in vielen Ländern. Wo man hinschaut, sind die Dinge dabei, sich in eine völlig offene Richtung zu bewegen. Niemand weiss, wie die Region in ein, zwei oder fünf Jahren aussehen wird. Und wenn man in einer solchen Lage immer wieder militärisch interveniert, wie Israel dies tut, dann kann man sich natürlich militärisch durchsetzen. Anderseits schafft man damit aber auch neue Spannungen und ruft neue Akteure auf den Plan und irgendwann ist das Ganze nicht mehr kalkulierbar. Die Folgen können dann nicht nur für Israel, sondern auch für die westlichen Staaten und ihre Interessen in der Region richtig unangenehm werden.
Was ist für Sie das Worst-Case-Szenario?
Dass die Dinge nicht mehr kontrollierbar sind, dass aus diesem Gaza-Krieg ein grösserer Zusammenstoss mit den Staaten der Region erwächst. Und dass am Ende die Regierung Netanjahu erklärt, jetzt müssen wir die Wurzel aller Übel anpacken, und den Iran angreift.
Dabei spielt der Iran im Gaza-Streifen doch längst nicht mehr diese dominierende Rolle.
Wenn man nach Kriegsgründen sucht, wird man sie finden. Nahostpolitik und die israelische Nahostpolitik im Besonderen ist nicht rational, sondern gelenkt von Interessen, welche gegenwärtig im Fluss sind. Wir dürfen nicht vergessen, dass es vermutlich eine iranische Rakete war, eine Fajr 4, die in der Nähe von Tel Aviv einschlug.
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