Papablog: Kinderrechte in DeutschlandNebenjob: Familienministerin
Ein unbesetztes Amt, mehr häusliche Gewalt und viel Symbolpolitik: Unser deutscher Blogger attestiert seinem Land eine familienpolitische Krise.

In Deutschland sollen Kinderrechte bald im Grundgesetz stehen. Anfang des Jahres brachte die Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD eine entsprechende Verfassungsänderung auf den Weg: Artikel 6, Absatz 2 des Grundgesetzes soll um vier Sätze erweitert werden, die das Recht von Kindern «auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten» betonen sowie den «verfassungsrechtlichen Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör». Um die Gesetzesänderung zu beschliessen, ist bei der noch nicht terminierten Abstimmung im Bundestag eine Zweidrittelmehrheit notwendig.
Was würde sich verändern?
Bisher sind die Rechte von Kindern in Deutschland und der Schweiz auf ähnliche Weise geregelt. Beide Staaten bekennen sich zur 1989 vorgestellten Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. Deutschland ratifizierte das Papier 1992, die Schweiz fünf Jahre später. Die Grundprinzipien der Konvention räumen Kindern ein Recht auf Nichtdiskriminierung ein, auf Leben, Überleben und Entwicklung, auf Partizipation und die Einhaltung von Kindesinteressen. Ein Schlüsselbegriff legt ausserdem fest, dass das Kindeswohl bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, «vorrangig» zu berücksichtigen sei. Was also würde sich durch grundgesetzlich verankerte Kinderrechte überhaupt verändern?
Das klingt gut, aber ist es auch mehr als ein symbolpolitischer Vorstoss?
Im Deutschlandfunk sagte die SPD-Politikerin Katja Mast dazu: «Die Rechte von Kindern und Familien werden besser einforderbar und einklagbar». Dem Staat käme in Zukunft eine noch grössere Verantwortung dafür zu, kindergerechte Lebensverhältnisse zu schaffen. Bildungs-, Bau- und Infrastrukturmassnahmen, die sich speziell an Kinder richten, könnten gestärkt werden, ebenso die Arbeit von Sozialeinrichtungen. Kindern und Jugendlichen soll etwa bei der Planung neuer Schulen, Spielplätze oder Radwege ein Mitspracherecht eingeräumt werden.
Wie ist die Lage in der Schweiz?
Das klingt zunächst einmal gut, aber ist es auch mehr als ein symbolpolitischer Vorstoss? Während sich konservative und rechtspopulistische Kritik an der geplanten Verfassungsänderung vor allem darum sorgt, dass der Staat vermehrt in das Entscheidungsgebiet von Eltern eingreifen könnte, geht den Grünen und diversen Kinderrechtsorganisationen der Entwurf nicht weit genug. Schliesslich stufe die UN-Konvention die Berücksichtigung des Kindeswohls bereits als «vorrangig» ein, wohingegen das modifizierte deutsche Grundgesetz eine «angemessene» Berücksichtigung desselben vorsieht. Ein denkbar schwammiger Begriff, der als hart erkämpfter Kompromiss zwischen CDU/CSU und SPD entstanden sein soll.
Auch die Teilhabe von Kindern an Entscheidungsprozessen, die ihre Lebensverhältnisse betreffen, wird in den Augen vieler Beobachterinnen in der geplanten Grundgesetzänderung nicht ausreichend hervorgehoben. Waren also die Vereinten Nationen schon vor 32 Jahren weiter als die heutige deutsche Regierung? Und wie ist die Lage in der Schweiz? Hier heisst es in Artikel 11 der Bundesverfassung: «Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung.» Zumindest in der Wortwahl klingt das bereits stärker als die deutschen Pläne.
Noch immer kein Verbot von Körperstrafen
Die Einstufung von Artikel 11 als soziales Grundrecht oder als sogenanntes Sozialziel ist jedoch juristisch ungeklärt. Hinzu kommt, dass es in der Schweiz noch immer kein Verbot von Körperstrafen gibt. Zuletzt scheiterte im Jahr 2017 eine Motion mit dem Titel «Abschaffung des Züchtigungsrechts». Rechtlich geahndet werden können gemäss Strafgesetzbuch lediglich «wiederholte und systematische Züchtigungen». Deutschland hingegen verabschiedete im Jahr 2000 ein Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung. Das weltweit erste Gesetz dieser Art besteht in Schweden schon seit 1979.
Die familienpolitische Krise manifestiert sich etwa im Erscheinungsbild deutscher Grossstädte, die nicht für Kinder, sondern für Autos konzipiert werden …
Wo also stehen wir jetzt? Der vorliegende Blog wurde aus einer deutschen Perspektive geschrieben. Aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen und von Gesprächen mit anderen Eltern erscheint es mir angemessen, dem Land, in dem ich lebe, eine familienpolitische Krise zu attestieren. Diese manifestiert sich etwa im Erscheinungsbild deutscher Grossstädte, die nicht für Kinder, sondern für Autos konzipiert werden, im Fachkräftemangel in Kitas und natürlich auch als Teilaspekt der Coronakrise.
Pandemiebekämpfung und die Kinder
In unverhältnismässiger Weise wurden die Lasten der Pandemiebekämpfung auf den Schultern von Kindern abgeladen. Noch immer sind deutsche Schulen teilweise nicht zum Präsenzunterricht zurückgekehrt. In kaum einem Klassenzimmer wurden Luftfilter installiert, die der Übertragung des Virus entgegenwirken könnten. Bis heute gibt es keine einheitlichen Konzepte für digitalen Unterricht. Sport- und Freizeitangebote sind nach wie vor eingeschränkt. Vermehrte Fälle von häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Kinder wurden zwar registriert, aber nicht entschlossen bekämpft. Vor allem Kinder, die in sogenannten schwierigen sozialen Verhältnissen aufwachsen, leiden unter diesen Umständen.
Das Thema der Klimakrise und deren möglicher Folgen für heutige und zukünftige Kinder muss an dieser Stelle gar nicht mehr erwähnt werden, um zu verdeutlichen, dass es Kindern an Wertschätzung fehlt. Ihre Rechte explizit im Grundgesetz zu verankern, würde daran allein sicherlich nichts verändern. Manche Pandemieentscheidung wäre jedoch möglicherweise anders ausgefallen, wenn die Verfassung das Kindeswohl bereits als «vorranging» oder wenigstens «angemessen» zu berücksichtigen gewesen wäre. Liesse man Kinder und Jugendliche gemäss ihres Reifegrades an der Politik teilhaben, würde das ohnehin vieles verändern.
Das Familienministerium als Zweitjob
Stattdessen hat Deutschland derzeit nicht einmal ein eigenständiges Familienministerium. Als die Familienministerin Franziska Giffey (SPD) vor wenigen Tagen zurücktrat – ihre Doktorarbeit, die natürlich nichts mit Kinder- oder Familienthemen zu tun hatte, wurde als Plagiat entlarvt –, entschied ihre Partei nicht etwa, das Amt neu zu besetzen. Stattdessen wird die Justizministerin Christine Lambrecht das Ministerium bis zur Bundestagswahl im September als Zweitjob übernehmen.
Die Begründung für diese Entscheidung sagt viel über die Priorisierung von Kindern und Familien in der deutschen Politik aus. Giffey gab an, alle Punkte aus dem Koalitionsvertrag bereits abgearbeitet zu haben. Für Bonusziele reicht offenbar ihr Elan nicht mehr – oder ist es doch die Zeit? Schliesslich will sich die Politikerin trotz ihrer Plagiatsaffäre im Herbst zur neuen regierenden Bürgermeisterin von Berlin wählen lassen. Ihre Partei verkündete derweil, dass sich eine neue Familienministerin bis zur Wahl gar nicht mehr ordentlich einarbeiten liesse. Als Wahlkampfthema, in dem ein neuer Kopf noch einmal Impulse setzen könnte, scheint die SPD Kinder und Familien also nicht zu begreifen.
In aktuellen Umfragen erreicht sie übrigens zwischen 14 und 17 Prozent.
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