Corona prägt EinkaufsverhaltenDie Schweiz kauft ein, wenn der Znacht gegessen ist und die Kinder im Bett sind
Die Krise hat unsere Gewohnheiten beim Onlineshopping verändert. Bestellungen geben wir neuerdings lieber am Abend auf. Die Gründe.

Gefühlt ist die Pandemie vorbei. Doch manche Gewohnheiten aus den Zeiten von Homeoffice und Lockdown haben sich in die neue Normalität gerettet. So wurden vor der Corona-Krise Einkäufe im Internet häufig noch rasch vor dem Feierabend erledigt. Jetzt erfolgen die Bestellungen mehrheitlich nach 21 Uhr.
Das zeigen aktuelle Nutzerdaten des grössten Schweizer Onlinehändlers Digitec Galaxus, die uns exklusiv vorliegen. Analysiert wurden die Jahre 2019, 2021 sowie die Periode von März bis April 2022. Sie stehen für die Zeit vor dem Ausbruch des Coronavirus, für das zweite Jahr der Pandemie und die ersten Monate mit vollständigen Lockerungen.
Andere Anbieter wie Interdiscount und Microspot beobachten neuerdings ähnliche Einkaufsspitzen am Abend. Bei Interdiscount erfolgt laut Firmenangaben ein Anstieg der Bestellungen jeweilen kurz vor 20 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt ist der spätmöglichste Bestellschluss, damit die Ware noch am folgenden Tag ankommt. Bei Microspot gibt es Ausschläge zwischen 19 und 21 Uhr. Beide Onlineshops gehören zu Coop, Digitec Galaxus zur Migros.
Expertin: «Einkaufen ist auch Freizeit»
Branchenkennerinnen wie Marta Kwiatkowski Schenk vom Gottlieb-Duttweiler-Institut sprechen von «Einkaufsroutinen», die sich während der Pandemie verändert hätten. Die Konsumentinnen und Konsumenten hätten sich neue Tagesabläufe angeeignet, arbeiteten mehr von zu Hause aus oder hätten neue Hobbys entdeckt.
Mit anderen Worten: Weil sich die Heimarbeit zunehmender Beliebtheit erfreut, entfällt für viele Arbeitnehmer das Pendeln. Nutzten sie vor der Pandemie die Zeit im öffentlichen Verkehr für einen Einkauf im Internet, so verlagern sie diese Aktivität nun in den späten Abend – wenn das Znacht gegessen ist, die Kinder im Bett sind und der Fernseher läuft. «Einkaufen ist auch Freizeit, und das wirkt sich deshalb direkt auf den Rhythmus aus», sagt Kwiatkowski Schenk.
Ein Beispiel für diesen fliessenden Übergang sind Jugendliche, die abends fernsehen und daneben auf dem Smartphone einkaufen. «Viele Junge bestellen tatsächlich die Kleider, die in Netflix-Serien getragen werden», so Kwiatkowski Schenk, die stellvertretende Direktorin der unabhängigen Denkfabrik für Konsum, Wirtschaft und Gesellschaft ist. Dieses Phänomen sei mit dem Mehrteiler «Emily in Paris» bekannt geworden.
In der Serie geht es um eine junge US-Amerikanerin, die in der französischen Hauptstadt eine neue Arbeitsstelle annimmt und sich in der frankofonen Kultur zurechtfinden muss. Netflix schaltete «Emily in Paris» im ersten Jahr der Pandemie auf, was der Serie hohe Zuschauerzahlen einbrachte.
Den Trend zum mobilen Endgerät, das in den Abendstunden jederzeit griffbereit ist und mit dem spontane Einkäufe getätigt werden, bestätigen auch die Nutzerdaten von Digitec Galaxus. Während der klassischen Bürozeiten erfolgen die meisten Bestellungen im Internet über herkömmliche Computer und Laptops. Nach Arbeitsschluss findet ein Wechsel statt, und die Kunden kaufen hauptsächlich auf Smartphones und Tablets ein.
Das sich verändernde Einkaufsverhalten dürfte zu neuen Erwartungshaltungen der Konsumenten an den Onlinehandel führen, sagt Detailhandelsexpertin Kwiatkowski Schenk. Es sei unklar, ob die Anbieter bei einer Bestellung um 23 Uhr am nächsten Tag immer noch ausliefern können. Denn schnelle Lieferzeiten seien ein wichtiger Treiber beim Kaufentscheid.
Ware kommt erst am übernächsten Tag
Zumindest die Kundschaft von Digitec Galaxus akzeptiert es, dass sie bei einer Bestellung am späten Abend die Ware nicht mehr am nächsten Tag geliefert erhält. Die späteste Frist dafür ist 19 Uhr.
Das Unternehmen hält dazu fest, dass es nach 21 Uhr die meisten Einkäufe noch am selben Tag für den Versand vorbereiten könne. Die Ware könne aber erst am nächsten Morgen in die Lastwagen der Post verladen werden. Die Frage ist, wie lange die Konsumenten diese Lieferfristen noch in Kauf nehmen.
Jon Mettler ist seit 2018 Wirtschaftsredaktor bei der Zentralredaktion von Tamedia. Er berichtet über Telekommunikation, Digitalisierung, Tourismus und die Uhrenindustrie. Er hat mehrere Journalistenpreise gewonnen, darunter den Nebenmedienpreis des Schweizerischen Anwaltsverbands, den European Newspaper Award und den Medienpreis der Bedag.
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