Das erste «Original des Monats»
Seit Kurzem hält die Studienbibliothek für alle, die es wissen wollen, Monat für Monat ein «Original des Monats» bereit: Man darf es zur Hand nehmen, kann sich damit auseinandersetzen – oder einfach nur staunen.
Schier unglaublich, dass einer so etwas mehr oder weniger im Alleingang schaffen konnte. Ein wahrer Enzyklopädist war er, ein guter Beobachter auch und von den Erscheinungen der Natur so fasziniert, dass er ein riesiges, 27 Bände umfassendes Werk schuf, von denen nur einige wenige nicht von ihm selbst stammen: Gottlieb Tobias Wilhelm (1758–1811) und seine «Unterhaltungen aus der Naturgeschichte». Gottlieb Tobias, Sohn von Christian Wilhelm, der als Kupferstecher arbeitete und in Augsburg den Verlag Engelbrechtsche Kunsthandlung führte, hatte Theologie studiert und war Pfarrer und eben auch Schriftsteller geworden: Sich mit den Wundern der Natur, die schliesslich für Gott sprachen, auseinanderzusetzen und sie einem breiten Publikum zugänglich zu machen, war eine sinnvolle Aufgabe. So verschaffte sich Wilhelm dank umfangreicher Lektüre die nötigen Kenntnisse, und im bewegten Jahr 1792 erschien der erste Band seiner «Unterhaltungen aus der Naturgeschichte». Viele weitere sollten folgen. Leuchtende Bilder Allein in Augsburg, wo Wilhelm mit seiner Frau lebte, bestellten die ersten Subskribenten – die Texte erschienen in wöchentlichen Lieferungen, die man sich dann zum Buch binden lassen konnte – gleich über tausend Exemplare. Denn das Unternehmen versprach nicht nur befriedigende Lektüre und nützliche Kenntnisse, es gab auch noch Schönes, Interessantes, Unerhörtes und nie Gesehenes fürs Auge: Zu jedem der handlichen Bände gehören nämlich mehrere Dutzend Bildtafeln, alles Kupferstiche, hervorragend von Hand (!) koloriert. Abraham Christian, ein Bruder von Gottlieb Tobias, hat wesentlich an den leuchtenden Bildern mitgearbeitet. Ein typisches Produkt deutscher Aufklärung seien die «Unterhaltungen aus der Naturgeschichte», weiss Wikipedia. Für uns heutige Leser und Betrachter aber ist es, nicht anders als für Wilhelms Zeitgenossen, vor allem dies: eine traumhaft schöne Enzyklopädie, die man mit Begeisterung zur Hand nimmt. Und aus der ein Geist spricht, der uns noch heute in vielem unmittelbar berührt. – Das Beste ist natürlich, dass die Studienbibliothek eine hervorragend erhaltene Ausgabe dieser Naturgeschichte besitzt und sie als erstes «Original des Monats» jedem, der es möchte, zugänglich macht, zumindest diesen einen Band 14, aus dem das Bild stammt, mit dem sich das Original des Monats November online präsentiert. 1805 erschienen, ist Bd. 14 der zweite Teil von insgesamt drei mit «Unterhaltungen über den Menschen». Er beschäftigt sich mit der menschlichen Anatomie, aber auch mit Absonderheiten wie «Doppelmenschen». Mit einem solchen Doppelmenschen – nach heutigem Sprachgebrauch: siamesische Zwillinge – macht das erste Original des Monats auf sich aufmerksam. Wer dann in Bd. 14 nachliest, erfährt, dass «das doppelte Frauenzimmer» 1701 in Ungarn zur Welt kam und das Schicksal ähnlicher Leidensgenossen zu ertragen hatte: herumgezeigt zu werden an Jahrmärkten und anderen Orten in ganz Europa. Ein Geistlicher machte dem Treiben ein Ende und verschaffte den beiden Mädchen Aufenthalt und Arbeit in einem Kloster in Pressburg (heute Bratislava). Alt wurden die zwei nicht; sie verstarben im 22. Lebensjahr. Wunder und Zusammenhänge Gottlieb Tobias Wilhelm schreibt so, dass man ihn auch heute noch gerne liest; zeitgenössische Kritiker lobten ihn für die «Deutlichkeit und Reinheit des Vortrags». Bei aller (nicht allzu strengen) Systematik lebt Wilhelms Enzyklopädie gerade auch von der Subjektivität und seiner Schriftstellerpersönlichkeit, die ihn einzelne Beispiele und Anekdoten herausgreifen lässt, egal ob es sich um Menschen oder Säugetiere, um Würmer, Pflanzen oder Insekten handelt. Wilhelm – er müsste kein Theologe sein – erkennt das Gefüge von Zusammenhängen und schreibt etwa in Bd. 3 («Amphibien», 1794), dass jedes Wesen seinen Sinn und Zweck habe. Wer zum Beispiel die gefürchteten Schlangen vertreiben und vernichten wolle, bedächte die Folgen nicht. Heute würden wir sagen: Dadurch würde das ökologische Gleichgewicht gestört. Immer wieder macht Wilhelm aufmerksam auf die Vielfalt der Natur und all das Unerforschte, was nach und nach den «Catalog der Schöpfung» erweitert und bereichert. Dem Gewöhnlichen gilt seine Aufmerksamkeit nicht weniger als dem Besonderen. Er lädt die Leser ein, unter dem Vergrösserungsglas die «Wunder an der Fliege» zu entdecken, der gewöhnlichen Stubenfliege, und schreibt (in «Der Insecten dritter Theil», 1798): «Wir wählen hierzu eine von Milben geplagte. An ihr sehen diejenigen, die die Fliege für sehr glücklich halten, weil sie immer von Genuss zu Genuss eilt, dass auch sie ihr Hauskreuz habe.» Das mag, vom Wissenschaftlichen her gesehen, eine allzu menschliche Sicht auf die Fliege sein, aber gerade solche und ähnliche Passagen vermögen, zusammen mit den kolorierten Kupferstichen, heutige Betrachter anzusprechen, ja zu begeistern.
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