«Fast alle kommen wieder»
Im «Brennpunkt» der Mobilen Sozialarbeit Subita treffen Schicksale aufeinander. Es lässt sich aber auch gemütlich Kaffee trinken. Ein Besuch an der Steinberggasse 18.
Der «Brennpunkt» befindet sich etwas versteckt im ersten Stock eines Altstadthauses: ein schmaler Gang, dann eine steile Treppe. Von oben hört man Gelächter und Geschirrklappern. Zwei Minuten später steht eine Tasse Kaffee auf dem Tisch und der Besucher ist in ein Gespräch verwickelt. Oder eher zwei Gespräche, denn am Tisch wird munter durcheinandergeplaudert. Jeden Donnerstagnachmittag trifft sich eine bunte Runde in den Räumen der Mobilen Sozialarbeit Subita. Rund 20 Männer und Frauen sind es diesmal. IV-Rentner, Ausgesteuerte, Verwitwete, Süchtige, Einsame. Sie essen Würstchen mit Senf, trinken Kaffee, einige spielen Domino. So unterschiedlich sie sind, es gibt Gemeinsamkeiten. «Bei vielen gab es irgendwann einen Bruch in der Biografie», sagt Sozialarbeiterin Barbara Heusser. Bei Stefanie (alle Namen geändert) war es vor drei Jahren der Götti, der starb. «Er hat mir alles bedeutet.» Die 54-Jährige wuchs im Berner Oberland als Verdingkind auf. Ihre Eltern kannte sie kaum. Nach dem Todesfall erlitt die Chauffeurin ein Burnout. Just dann, als ihre Fahrtauglichkeitsprüfung erneuert werden sollte. Es gehe ihr wieder besser, sagt sie. Aber sie finde einfach nicht in den Beruf zurück. Sitzen ohne Konsumzwang «Emotionale Krisen oder Suchtthematiken sprengen oft den Rahmen dessen, was der Freundeskreis oder die Familie auffangen kann», sagt Barbara Heusser. «Im ‹Brennpunkt› treffen die Leute auf andere, die Ähnliches erlebt haben. Die Empathie ist gross.» Seit 2006 gibt es den Treff. Er wächst langsam, aber stetig durch Mundpropaganda. Der Umgangston im «Brennpunkt» ist direkt, es kann auch einmal laut werden. «Die Leute bringen ihre Emotionen mit», sagt Heusser. «Es dürfen auch einmal Tränen fliessen.» In solchen Fällen steht das Subita-Büro als Rückzugsraum zur Verfügung. Hier führen Heusser und ihr Kollege Martin Hartmann auch an anderen Wochentagen niederschwellige Beratungen durch, wenn sie nicht auf der Gasse unterwegs sind – im Rahmen der aufsuchenden Sozialarbeit. Subita gehört zum Verein Strassensozialarbeit. Die Stadt Winterthur hat ihren Leistungsauftrag und ihre Beiträge kürzlich erneuert. Auch die Landeskirchen und Private unterstützen Subi- ta. Kurzberatungen erledigen Heusser und Hartmann an diesem Abend nebenher: Kriseninterventionen, Wohnungsanzeigen ausdrucken oder Adressen von Beratungsstellen weitergeben. Zwei Personen finden in der eigenen Kleiderbörse dringend benötigte Winterkleider. Ein Jammeriklub sei der «Brennpunkt» nicht, sagt Heusser. Im Gegenteil, meist gehe es fröhlich zu und her. Im Sommer spielt auf der Terrasse im Hinterhof auch einmal jemand Schwyzerörgeli. Gesungen wird auch an diesem Abend. Fredi hatte am Nachmittag spontan einen Apfelkuchen gebacken. «60 Jahre alt werde ich», strahlt er. In seinem pinkfarbenen Hemd und mit dem bulligen, braun gebrannten Schädel wirkt er jünger. «In diesem Alter wäre ich als Bauarbeiter pensioniert worden.» Wäre. Es kam anders. Er leidet unter schwerer Arthrose und nicht kurierbaren Sehnenentzündungen. Deshalb musste er seinen Job schon mit 55 quittieren, danach hat er keine bezahlte Anstellung mehr gefunden. Fredi lebt von 30 Franken Sozialhilfe am Tag. «Es ist wichtig, dass Leute wie wir einen Ort haben, wo wir unter Menschen kommen und nichts konsumieren müssen», sagt er. Genau das sei die Idee, sagt Heusser: «Wo geht man denn heute noch in eine Beiz und kommt mit Leuten ins Gespräch? Wenn du beim Reingehen niemanden kennst, kennst du auch beim Rausgehen niemanden.» Hier dagegen lernten Neuzuzüger schon am ersten Abend viele Gesichter kennen. «Fast alle kommen wieder.» Die Geschichte eines Trockenen Fredi serviert unter Applaus Kuchenstücke. «Einfach schön» sei das Zusammensein hier, findet Isabelle, genannt Isa. Die junge Frau ist seit den Anfängen mit dabei. Sie wohnt seit einiger Zeit wieder bei ihrem Vater. Der Ex-Freund habe in ihrer Wohnung randaliert, da habe ihr der Vermieter gekündigt. Hier ist das aber erst einmal weit weg. Isa wirkt fröhlich. Stefan hat die Triominos-Steine hervorgeholt, eine Art Domino. Grossmäulig, aber charmant stachelt der 42-Jährige seine Mitspielerinnen an. «Bisch en Schnuri», tönt es zurück. Stefan strahlt trotzdem. «Seit November bin ich trocken», sagt er. Als er im Herbst mit über vier Promille ins Spital kam, sei das ein Warnsignal gewesen. Und als er in der Kirche hörte, dass Freiwillige für den Kerzenverkauf gesucht würden, habe er sich gesagt: «Ich machs. Aber nur trocken.» Die Gemeinde habe für ihn gebetet. Und er, der gelernte Verkäufer, zog es durch. Inzwischen arbeite er zu 80 Prozent als Kellner im Café, erzählt er stolz. Ein Erfolg, der hier jeden freut. Manchmal hält die Verbundenheit bis über den Tod hinaus an. Eine alte Frau, deren Verwandte weit weg wohnten, sei bis zum Schluss jeden Donnerstag in den «Brennpunkt» gekommen, erzählt Heusser. «Zuletzt mussten wir sie stützen die Treppe hoch, aber sie wollte es nicht verpassen.» Als sie starb und niemand da war, der an der Abdankung Erinnerungen an sie teilen konnte, schrieben Heusser und die Stammgäste eine Rede über alles, was sie an den Donnerstagen mit ihr erlebt hatten.
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