Leichtes mit Erschütterungspotenzial
Blochers Mausoleum als obligatorisches Schulreiseziel, Bundesratswahl als TV-Castingshow: Charles Lewinskys «Schweizen. 24 Zukünfte» vereint heitere Fingerübungen zum Thema «Wo soll das alles enden?».
Überfremdung, Zersiedelung, Überalterung, Atomkraft, Klimawandel: Themen, die sich weiterzudenken lohnen, gibt es in der Schweiz genug. Aber Charles Lewinsky hat sich das Fabulierspiel, das jede trunkene Runde absolvieren könnte, verdankenswerterweise erschwert, indem er in jedem Kapitel eine andere Textsorte wählte. Die Zubetonierung der Landschaft giesst er in eine Häschenfabel, die Popularisierung der Politik in ein Beratungsgespräch, die Auswirkungen des immer wieder verschobenen Atomausstiegs in einen nachapokalyptischen Fragebogen und den Werdegang von Christoph Blocher – seinerzeit zweimaliger Bundesrat und danach Bundespräsident auf Lebenszeit – in einen Schulaufsatz. Von läppisch bis genial Dabei gibt es bei einigen Themen auch Varianten: In der einen Zukunft ist Blocher ein staatlich verordnetes Anbetungsobligatorium; in der anderen ist Cédric, der den Kapitalismus abgeschafft hat, Staatsheiliger. In der einen Zukunft versinkt die Schweiz in Müll und Krankheit, weil alle Ausländer ausgeschafft wurden und nun keiner mehr Drecksarbeit machen will; in der anderen hat praktisch jeder Schweizer ausländische Wurzeln und die letzte Bastion des Schweiztums wird gestürzt, weil auch deren Säulenheilige nicht rassenrein sind. Viel mehr als heitere Fingerübungen sind die neuen Texte vom Autor des Weltbestsellers «Melnitz» nicht. Einige könnten durchaus in die Schulbuchliteratur eingehen, andere streifen das Läppische. Wenn sich beispielsweise die Urkantone 2072 mit einem neuen Bundesbrief von der EU-freundlichen Schweiz trennen und mit «Ääggipäätsch» die Sperrung des Gotthardtunnels ankündigen, wirkt das fast peinlich. Wenn hingegen im gereimten Festspiel zu «100 Jahre AHV» 24 Kranzturner die Entwicklung der Alterspyramide demonstrieren und am Schluss einer allein – der die Jugend symbolisiert – die anderen 23 auf seinen Schultern balanciert, dann mutet das bei aller Einfachheit dennoch beinahe genial an. Leser, träum weiter «Schweizen» – Lewinskys Plural zu «Schweiz» – gehört auf jeden Nachttisch. Das Buch allein vermag wohl nur wenige unmittelbar zum Umdenken veranlassen. Es könnte aber Träume verursachen, die einem so einfahren, dass man nachhaltig erschüttert wird. Charles Lewinsky hat das Konzept fürs Buch, wie er im Vorwort schreibt, übrigens ebenfalls im Traum empfangen.
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