Sie sahen die Zeichen der Apokalypse
Ein kleines Dorf in Sibirien und seine Geschichte im turbulenten zwanzigsten Jahrhundert ist Thema einer Forschungsarbeit der Historikerin Eva Maeder. In einem eindrücklichen Vortrag berichtete sie über das Leben der dort ansässigen Altgläubigen.
Eigentlich scheint es eine kleine Reform zu sein. Nur ein einziger Finger eines Handzeichens wurde verändert. Doch diese Veränderung genügte, um die russischen Orthodoxen im 17. Jahrhundert in Aufruhr zu versetzen. Der Symbolgehalt der religiösen Geste war zu gross, als dass man deren Modifizierung einfach hinnehmen wollte. Ein Teil der religiösen Gemeinde wehrte sich gegen die Reform, spaltete sich ab und ist bis heute als die «Altgläubigen» bekannt. Auch heute noch gibt es in Russland Dörfer, in welchen überwiegend Altgläubige leben und ihre Religion praktizieren.
Eines davon wurde von der Winterthurer Historikerin Eva Maeder besucht und vertieft untersucht. In einem kurzweiligen Vortrag im Museum Lindengut berichtete Maeder am Dienstagabend über ihren Aufenthalt im sibirischen Dorf Bol’šoj Kunalej und ihre Forschungsarbeit. Lebendig und mit vielen Bildern untermalt, erzählte sie aus der Geschichte des Dorfes in der bewegten Zeit des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.
Das Ende des Zarenreichs, die unmittelbaren Folgen der Russischen Revolution, die Neue Ökonomische Politik Lenins und die Kollektivierung unter Stalin waren die Stationen der Geschichte, welche an diesem Abend betrachtet wurde. Eine Leitfrage führte den Blick weg von der Weltgeschichte und hin zur Dorfgeschichte: Welche Auswirkungen, so fragte Maeder, hatten diese grossen Ereignisse auf das Leben der Bauern? Die Historikerin begab sich auf Spurensuche und durchforstete Staats- und Parteiarchive, las alte Zeitungsartikel, untersuchte Karten und Fotografien und führte Interviews mit Zeitzeugen. Herausgekommen ist ein umfassendes und differenziertes Bild über die Lebensbedingungen der Altgläubigen in dieser Umbruchzeit.
Das einfache Volk im Fokus
So spürten die Bauern des Dorfes die Veränderungen in ihrem Staat in ihrer Abgeschiedenheit insbesondere durch die Auswirkungen auf ihren Alltag. Zum Beispiel versuchten extra angereiste Parteimitglieder die Dorfbewohner «aufzuklären» und für die Ideen der Kommunistischen Partei zu gewinnen. Oder so wurde der Beitritt zu einem Kolchos obligatorisch und dessen Ertrag primär durch den Staat eingezogen, sodass die Bauern in ihrer spärlichen Freizeit ein eigenes Stück Acker zur Selbstversorgung bebauen mussten. Oder so geriet auch der identitätsstiftende Glaube in den Strudel der Ereignisse, als die Kirchen eingerissen wurden.
Maeder untermalt ihre dichten Ausführungen immer wieder mit Anekdoten, die ihr die Dorfbewohner erzählten. Sie fangen die damalige Stimmung im Dorf auf besondere Weise ein. So verriet ihr eine alte Frau im Hinblick auf die Kirchenzerstörungen, dass von den drei Hauptverantwortlichen alle einen unnatürlichen Tod erlitten hätten. Für diese Frau damals ein klares Zeichen der Rache Gottes und ein Hinweis auf die bald zu erwartende Apokalypse. Mit dem Glauben versuchte man die tief greifenden Veränderungen zu erklären, in der Tradition suchte man das Konstante. So bewahrte sich das Dorf bis heute eine eigene Identität und verbreitet dieses Zeitzeugnis durch einen bis nach Moskau bekannten Chor.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch