Verletzliche Schönheit, roher Schmerz
Ergriffenheit, Ekstase, Euphorie, Eleganz: Der Jazzmagier Charles Lloyd hat in Zürich im Moods im Schiffbau ein neues Quartett präsentiert.
Eine anderthalbstündige Suite und zwei durchaus nicht knapp bemessene Zugaben: Die 76-jährige Jazzlegende Charles Lloyd bestritt in Zürich ein langes Konzert, bei dem keine Langeweile aufkam. Dabei hat sich die Musik des Saxofonisten aus Memphis, Tennessee, seit seinem kometenhaften Aufstieg, also in über fünfzig Jahren, nicht gross gewandelt: Ausgehend von einfachen Vorlagen mäandert Lloyd grosszügig zwischen spiritueller Ekstatik à la Coltrane und fröhlichem Flower-Power-Patchwork. Lloyd ist kein Konzeptfuchs, sondern ein Soundmagier – seine beseelte Musik entsteht nicht auf dem Reissbrett, sondern im Moment.
Wenn es um die Instrumentierung seiner Bands geht, entscheidet sich Lloyd meistens für das konventionellste aller Jazzquartettformate – er lässt sich also am liebsten von Klavier (zum Beispiel Keith Jarrett, Michel Petrucciani, Bobo Stenson oder Geri Allen), Bass (Cecil McBee, Buster Williams oder Anders Jormin) und Schlagzeug (Jack DeJohnette, Jon Christensen oder Billy Hart) begleiten. Er bevorzugt Mitmusiker, die Traditionsbewusstsein mit Experimentierfreude verbinden und die bereit sind, das Heft bei Bedarf in die eigene Hand zu nehmen. Er ist also kein Kontrollfreak, sondern ein Primus inter Pares und Spiritus Rector, der viele freie Räume lässt.
Eine spezielle Aura
Beim Auftritt im platschvollen Zürcher Club Moods im Schiffbau präsentierte Lloyd ein Quartett, das man als neuer als neu bezeichnen könnte (auf seiner Webpage ist jedenfalls immer noch das «alte» Quartett mit Jason Moran, Reuben Rogers und Eric Harland als New Quartet aufgeführt).
Der fantastische Pianist Gerald Clayton, der agile Bassist Joe Sanders und der zugleich filigrane und druckvolle Schlagzeuger Gerald Cleaver verzückten nicht nur das Publikum, sondern auch ihren Chef, der sich über weite Strecken aus dem Vordergrund in den Hintergrund verabschiedete. Als aufmerksamer und sichtlich begeisterter Zuhörer schuf Lloyd eine ganz spezielle Aura, die selbstverständlich auch auf sein eigenes, emotional aufwühlendes Spiel abfärbte: Wie er zum Beispiel in der ersten Zugabe – einer hinreissenden Ballade – verletzliche Schönheit in beinahe rohen Schmerz überführte, kam beinahe einer Vivisektion gleich.
Zusätzlich verstärkt wurde die Konzentration durch das nahtlose Aneinanderhängen der zwischen ernsthafter Ergriffenheit und tänzerischer Ausgelassenheit oszillierenden Stücke, wobei es zwischen den Quartett- und Triopassagen immer wieder zu Solo- und Duointerludien kam – der extrem vielseitige Pianist Clayton legte hierbei besonders viel subtile Raffinesse an den Tag. Manchmal war das Publikum vom Geschehen derart hypnotisiert, dass es den bei Jazzkonzerten sonst üblichen Zwischenapplaus vergass. Am Schluss war dann aber der Applaus für Zürcher Verhältnisse übermässig euphorisch und lang anhaltend.
Das Beispiel von Lloyd zeigt, dass die Treue zu sich selbst und der Verzicht auf konzeptionellen Firlefanz das künstlerische Endresultat positiv beeinflussen (immer vorausgesetzt, dass die Chemie innerhalb der Band stimmt). Wem Authentizität und Essenz wichtiger sind als der neueste Schrei und Effekthascherei, ist bei konsequenten Koryphäen vom Schlage eines Lloyd an der richtigen Adresse: Sie bündeln ihre Energien, statt sie zu verzetteln (wie dies leider Clayton tut, wenn er mit seinem eigenen Trio spielt).
Ein Dauerbrenner
Dass im Jazz «Dauerbrenner» wie Lloyd immer seltener werden, hängt auch mit einem falsch verstandenen, aber für unsere schnelllebige Zeit typischen Innovationsbegriff zusammen. Bahnbrechende Verwandlungskünstler wie Miles Davis oder Henry Threadgill sind nun aber einmal die Ausnahme und nicht die Regel – viel zu oft verbirgt sich bei genauem Hinhören hinter scheinbarer Vielfalt ernüchternde Einfalt ohne Tiefe.
Lloyd muss sich nicht neu erfinden – es genügt vollauf, wenn er von Zeit zu Zeit neue Mitspieler findet, die bei der Aufgabe, die Fussstapfen ihrer Vorgänger auszufüllen, keine kalten Füsse bekommen.Tom
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