Winterthurs erster roter Pfarrer
Der Winterthurer Albert Reichen war Pfarrer, Sozialist und Wohltäter. Er kam heute vor 150 Jahren zur Welt.
«Sein Sozialismus war der Sozialismus der Menschenliebe» – ausgerechnet die bürgerliche «NZZ» würdigte in ihrem Nachruf Albert Reichen als «geistigen Führer der Sozialdemokratie», der auch «die Sympathien Andersdenkender» genoss. Reichen starb am 25. November 1929. Die Menschenmenge war riesig, die ihm das letzte Geleit erwies. Albert Reichen kam am 30. Januar 1864, genau vor 150 Jahren, in einer kinderreichen Lehrerfamilie in Grindelwald zur Welt. Schicksalsschläge wie die krankheitsbedingte Verarmung der Familie und der Tuberkulosetod von Vater und Geschwistern zwangen ihn, möglichst rasch Geld für die Familie zu verdienen. Trotz des «dornenvollen Weges» des Lebens, so der «Landbote», gelang es Reichen, in Zürich über den zweiten Bildungsweg ein Theologiestudium zu absolvieren und Pfarrer zu werden. 1895 an die Stadtkirche Winterthur gewählt, blieb er bis zu seinem überraschenden Tod im Amt. Der Glaube an das Gute Er sei nicht durch das Pfarramt zum Sozialismus gekommen, sondern durch den Sozialismus zum Pfarramt, sagte Reichen einst. Er war in der Pfarrschaft anfänglich ein Exot, der erste sozialdemokratische Pfarrer von Winterthur. Sein schwieriger Lebensweg stand ihm vor Augen, der ihn früh der Arbeiterbewegung nahebrachte. Eine wichtige Rolle spielte auch sein Charakter und seine Persönlichkeit: Sozialismus war für ihn eine Herzenssache. Optimistisch glaubte er an die Menschheit, die Jugend und den Fortschritt – und den Sieg des Guten in der Welt. Als Pfarrer stand er dem Kult distanziert gegenüber; der wahre Gottesdienst war für ihn der Dienst an den Mitmenschen. Seine Überzeugungen waren im bürgerlich-protestantischen Winterthur umstritten, seine Wahl erfolgte aber durchaus mit Blick auf die Arbeiterschaft, die sich immer stärker von der Kirche abwandte. Reichen gewann bald deren Vertrauen. Mit Gottesdiensten, Vorträgen und Kursen suchte er gezielt den Kontakt. Ab 1898 gehörte er als Grütlianer und dann als SP-Mitglied dem nachmaligen Gemeinderat und dem Kantonsrat an und wäre 1917 fast in den Regierungsrat gewählt worden. In zahlreichen Kommissionen und Vereinen engagierte er sich für das Erziehungs-, Gesundheits- und Armenwesen wie auch für den Tierschutz oder die Gleichberechtigung der Frauen. Der «Arbeiterpfarrer» schlug immer wieder Brücken zum Bürgertum. Er glänzte weniger durch geschliffene Predigten als durch Kontaktfreudigkeit und Mitmenschlichkeit, was ihn bei der Jugend beliebt machte. Als guter Menschenkenner und Seelsorger gab er der Jugend «Lebenslehren statt Bibelsprüche auf den Lebensweg», wie die Arbeiterzeitung anmerkte. Bleibende Verdienste schuf sich Reichen aber weniger als Pfarrer denn als Helfer im Hintergrund. Er unterstützte im Ersten Weltkrieg die Winterthurerin Julie Bikle bei ihren weltweiten Bemühungen um vermisste oder versehrte Kriegsopfer. Und ebenfalls in der Krisenzeit des Ersten Weltkriegs legte er Ende 1917 im Kirchgemeindehaus an der Liebestrasse den Grundstein für die «Stiftung für das Alter», die spätere Pro Senectute.
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