
Es ist genau der Fall, den man am Brüsseler Nato-Hauptquartier befürchtet hat: dass nämlich Russlands Krieg in der Ukraine auf das Bündnisgebiet übergreift und die Allianz in einen direkten Konflikt mit Russland hineingezogen wird. Zwei Menschen sind im polnischen Grenzgebiet zur Ukraine ums Leben gekommen. Nach dem ersten Schrecken gilt nun vorsichtige Entwarnung: Es war nach vorliegenden Informationen kein gezielter Schuss der russischen Streitkräfte, sondern eine fehlgeleitete Luftabwehrrakete der Ukrainer, die auf polnischem Boden niederging.
Angesichts der angespannten Lage zählt jedes Wort. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat sich in ersten Reaktionen ähnlich wie die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten sehr zurückhaltend geäussert. Das hat sich als klug erwiesen. Es sei jetzt wichtig, die Fakten zu eruieren, sagte Stoltenberg. Er sprach schon in den ersten Stunden vorsichtig von Explosionen in Polen und nicht von Raketeneinschlägen. Nur kein Öl ins Feuer schütten, keine Spekulationen schüren, die eine Eigendynamik auslösen könnten.
Selbst die nationalkonservative Regierung in Warschau hält sich rhetorisch auffällig zurück.
Die polnische Führung hat zwar einen Teil ihrer Streitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt. Aber sonst hielt sich selbst die nationalkonservative Regierung in Warschau rhetorisch auffällig zurück. Es gilt um jeden Preis eine Eskalation bis hin zu einer vollen militärischen Konfrontation zwischen der Nato und Russland zu verhindern. Das scheint zum Glück das Motto zu sein. Ein Angriff auf ein Mitglied ist ein Angriff auf alle und würde das Bündnis zur Solidarität zwingen. Der Grundsatz ist in der Nato-Grundakte im Artikel 5 festgeschrieben. Die Beistandspflicht ist in der Geschichte der Allianz erst einmal ausgerufen worden, und zwar von den USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001.
Die Nato sei nicht Kriegspartei
Das Bündnis ist noch einmal knapp an der Aktivierung dieses Beistandsartikels vorbeigeschrammt. Das zeigt, wie heikel die Gratwanderung der Allianz angesichts der Brutalität des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist. Jens Stoltenberg wird nicht müde, zu betonen, dass die Nato nicht Kriegspartei sei. Die Nato hat eine Beistandspflicht gegenüber Polen, aber nicht gegenüber der Ukraine. Die Mitgliedsstaaten unterstützen die Ukraine allerdings seit Kriegsbeginn mit immer mehr schweren Waffen. Die Allianz selbst liefert zwar kein Kriegsgerät, koordiniert aber die Hilfe.
Es ist richtig und wichtig, dass die Nato-Staaten die Ukraine dabei unterstützen, ihre Souveränität zu verteidigen. Den höchsten Preis zahlen die Ukrainerinnen und Ukrainer. Russland hat die Ukraine überfallen, nicht umgekehrt. Es ist richtig, dass die Nato-Mitgliedsstaaten und andere Partner die Ukraine dabei unterstützen, ihre territoriale Integrität wiederherzustellen. Alles andere wäre eine Kapitulation vor der Macht des Stärkeren, das Ende des Völkerrechts und ein gefährlicher Präzedenzfall. Der Raketeneinschlag in Polen zeigt aber, wie gefährlich diese Gratwanderung ist, wie gross das Dilemma der Unterstützer der Ukraine.

Solange der Krieg dauert und Russland seine Streitkräfte nicht zurückzieht, führt an diesem Dilemma kein Weg vorbei. Es ist gut, dass die Führung der Allianz und die Exponenten der Mitgliedsstaaten sich der Gefahr bewusst sind und entsprechend besonnen agieren. Am Mittwochmorgen sind die Botschafter der 30 Nato-Mitgliedsstaaten im Brüsseler Hauptquartier zusammengekommen. Polens Präsident Andrzej Duda hat das Treffen beantragt, ursprünglich basiert auf Artikel 4 des Nato-Vertrags, der Vorstufe zum Bündnisfall. Demnach können Mitgliedsstaaten Konsultationen beantragen, wenn sie die Unversehrtheit ihres Gebiets bedroht sehen.
Das Geschoss, das zwei Menschen im polnischen Grenzgebiet tötete, mag mit grosser Wahrscheinlichkeit von einer Rakete des Abwehrsystems S-300 stammen, abgefeuert von den ukrainischen Streitkräften. Die Verantwortung für den gefährlichen Zwischenfall liegt aber bei der russischen Führung, die am Dienstag über 100 Raketen auf unzählige zivile Ziele auf ukrainischem Staatsgebiet abfeuern liess. Solange der russische Präsident Wladimir Putin seinen Zerstörungskrieg nicht stoppt, besteht die Gefahr einer Eskalation.
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Analyse zum Raketeneinschlag in Polen – Noch einmal mit dem Schrecken davongekommen
Es war wohl kein russischer Angriff, sondern eine fehlgeleitete Abwehrrakete der Ukraine, die zwei Menschen in Polen tötete. Der Vorfall zeigt aber, wie gross die Gefahr einer Konfrontation zwischen Russland und der Nato ist.