Erforschung der BelastbarkeitWie sich die Erdbebenregion in Syrien und der Türkei schneller erholen könnte
Nach einem Erdbeben funktioniert die Infrastruktur nicht mehr und die Menschen leiden. ETH-Forscher entwickeln eine Methode, damit Behörden wirksam auf eine Katastrophe reagieren können.

Bozidar Stojadinovic ist zwar kein Psychologe, sondern Professor für Strukturdynamik und Erdbebeningenieurwesen an der ETH Zürich. Aber was er erforscht, hat durchaus Parallelen in der Psychologie.
Wenn ein Mensch psychisch belastbar ist, wenn er schwierige Lebenssituationen gut übersteht, wenn er sich von Schicksalsschlägen nicht aus der Bahn werfen lässt, dann gilt er als resilient. Das Wort stammt vom lateinischen «resilire» und bedeutet «zurückspringen». Je resilienter ein Mensch ist, desto schneller springt er aus einer Krise zurück in die Normalität.
Stojadinovic und sein Team erforschen die Resilienz nicht auf der Ebene einer Person, sondern auf der Ebene einer Nachbarschaft, einer Stadt, einer Region oder eines ganzen Landes. Erdbeben wie Anfang Februar im türkisch-syrischen Grenzgebiet mit mehr als 500’000 schwer beschädigten Gebäuden, rund drei Millionen Obdachlosen und mehr als 50’000 Toten sind ein enormer Stresstest, und es stellt sich die Frage: Wie schnell kann sich die durchgeschüttelte Region wieder von der Katastrophe erholen?
Schneller Sturz, langsame Erholung
Die Antwort wird etwas salopp als «Swoosh-Kurve» bezeichnet – die geschwungene Form des bekannten Nike-Markenzeichens. Denn das Symbol hat in etwa den Verlauf, um den es geht: Nach einem Desaster – sei es ein Erdbeben, ein Hochwasser oder ein Hurrikan – geht es mit der Funktionalität der betroffenen Region zunächst steil bergab, weil Gebäude kollabiert sind, weil Wasser- und Stromversorgung, Kommunikationsnetze und das Transportsystem nicht mehr funktionieren und weil viele Menschen verletzt oder gar tot sind. Nachdem die Talsohle der Funktionalität erreicht worden ist, geht es nur langsam wieder bergauf wie bei der Swoosh-Kurve, denn die Instandsetzung der zerstörten Infrastruktur und der Wiederaufbau sind oft zäh.
In der türkisch-syrischen Grenzregion ist die Swoosh-Kurve als Folge der jüngsten Erdbeben sehr tief abgestürzt, das System hat kaum Resilienz gezeigt. Das lag vor allem an der schlechten Konstruktionsqualität vieler Gebäude.

Forschende um Stojadinovic entwickeln derzeit ein Modell, das den genauen Verlauf der Swoosh-Kurve vorhersagen kann. Anhand dieses sogenannten Resilienz-Quantifikations-Modells lässt sich dann zum Beispiel ableiten, was in den Stunden, Tagen, Wochen und Monaten nach einer Katastrophe an welchem Ort angepackt werden sollte, um die Folgen der Katastrophe optimal abfedern zu können.
Das Resilienz-Modell prognostiziert auch, welche Ressourcen es braucht: wie viele Nothelfer und Nothelferinnen, wie viele Zelte, wie viel Zement, wie viele Kräne, Ingenieurinnen, Bauarbeiter und Finanzmittel.
Ein wichtiger Aspekt ist auch die Dauer des Wiederaufbaus: Sollte sich zum Beispiel in Basel ein starkes Erdbeben der Magnitude 6 oder höher ereignen, so ist gemäss dem Modell vielleicht mit Schäden in zweistelliger Milliardenhöhe zu rechnen. Wie lange der Prozess des Wiederaufbaus tatsächlich braucht, hängt aber massgeblich davon ab, ob frühzeitig, entschlossen und strategisch geschickt in den Wiederaufbau investiert wird. «Das ist die Kraft des Modells», sagt Stojadinovic. «Wir wollen die langfristigen Fragen zur Erholung der betroffenen Region schon gleich nach der Katastrophe beantworten können.»

Das ist nicht nur für Einsatzkräfte und für das Bauwesen eine essenzielle Information, sondern auch für betroffene Familien. «Familien wollen, dass ihre Kinder in die Schule gehen», sagt Stojadinovic. «Da macht es einen Unterschied, ob die Menschen in einem Jahr oder erst in drei Jahren in ihre Heimat zurückkehren können. Wenn es heisst, es dauert drei Jahre, dann suchen sich viele eine neue Heimat und kommen nicht mehr zurück.»
Ein Beispiel dafür ist das Erdbeben von L’Aquila in Italien im Jahr 2009. «Der Wiederaufbau hat einfach zu lange gebraucht, die Schulen hatten zu lange nicht geöffnet», sagt Stojadinovic. «Viele Leute haben die Region daher für immer verlassen.» Beim Erdbeben in Kraljevo in Serbien von 2010 hat der Wiederaufbau indes sehr schnell und gut funktioniert. «Soweit wir wissen, gab es keinen grösseren Exodus aus der Region.»
Zentral für den Ansatz von Stojadinovic ist die Vernetzung aller beteiligten Systeme. Denn vieles geht Hand in Hand. Wenn der Strom ausfällt, fallen auch die Wasserpumpen aus. Selbst wenn die Wasserleitungen noch intakt sind, wird ohne Strom kein Wasser fliessen. Wenn gewisse Strassen unpassierbar sind, wird auch die Reparatur der Stromleitungen erschwert. «Die frühere Resilienz-Forschung hat sich stark auf das Verhalten einzelner Teilaspekte fokussiert», sagt Stojadinovic. «Wir berücksichtigen die gegenseitige Abhängigkeit der verschiedenen Systeme.»
Dem ETH-Forscher geht es dabei nicht nur um die rein technische Widerstandskraft der Gebäude, Brücken und Leitungen. Er und Kolleginnen untersuchen auch die damit verknüpfte gesellschaftliche Resilienz: Welche Folgen hat das Desaster für die Arbeitskraft kleiner Unternehmen, für die Fähigkeit, Lebensmittel in die Supermärkte und Restaurants zu liefern, und für die Fähigkeit einer Person, überhaupt zur Arbeit zu gelangen oder Freunde und Bekannte zu besuchen?
Prävention kann die Resilienz erhöhen
Mit dem Resilienz-Quantifikations-Modell lassen sich auch Massnahmen identifizieren, um die Resilienz bereits im Vorfeld einer potenziellen Katastrophe zu erhöhen. Diese Massnahmen sollen dafür sorgen, dass die Swoosh-Kurve gar nicht erst so tief absinkt wie beim Erdbeben in der Türkei und in Syrien.
Dazu zählt zum Beispiel eine gewisse Redundanz an Wasser- und Stromleitungen oder an Bahntrassees: Wenn eine Leitung ausfällt, funktioniert vielleicht noch die andere, wenn eine Schienenverbindung zwischen Zürich und Genf zerstört wird, können Züge vielleicht noch auf der alternativen Route ans Ziel gelangen. Auch die erdbebensichere Sanierung von Gebäuden gehört in diese Kategorie.
Zurzeit besteht eine grosse Herausforderung darin, das Resilienz-Quantifikations-Modell anhand von konkreten Ereignissen auf seine Qualität zu prüfen. Dazu haben die Forschenden die Vorhersagen des Modells mit den realen Folgen verschiedener vergangener Erdbeben und dem tatsächlichen Verlauf des Wiederaufbaus nach der Katastrophe verglichen. «Wir schauen also zuerst, wie sich unser Modell bei vergangenen Ereignissen verhält, und nutzen es dann, um Vorhersagen zu machen», sagt Stojadinovic.
Neue Daten aus der Türkei
Auch vom Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet erhofft sich der ETH-Forscher nun Daten, um sein Modell weiter zu prüfen und vor allem um testweise eine Prognose für die Swoosh-Kurve betroffener Regionen erstellen zu können. Daher waren kürzlich zwei Vertreter seines Teams in der Türkei und haben einen ersten Eindruck mitgebracht: Welche Gebäudetypen sind in der Regel wie und wie stark beschädigt?
Benötigt werden auch Expertenmeinungen und Daten zur Frage, wie lange es braucht, um typische Gebäude erdbebensicher wieder zu errichten. Es braucht Informationen zu den Materialien, die dafür nötig sind. Dann kann Stojadinovic mithilfe des Modells abschätzen, wie hoch der gesamte Bedarf an Stahl, Zement, Kränen, Lastwagen, Bauarbeitern, Handwerkerinnen und Finanzmitteln ist, um die gewünschte Geschwindigkeit des Wiederaufbaus zu erreichen.
«Erst wenn es auf Herz und Nieren geprüft ist, wird es dereinst das Vertrauen von Regierungen geniessen können.»
Auch muss Stojadinovic eng mit der Wasser-, Strom- und Gasversorgung zusammenarbeiten, damit ihm Daten zum Zustand der jeweiligen Leitungen zur Verfügung gestellt werden. Da es sich dabei um sicherheitsrelevante Informationen handelt, müssen diese verschlüsselt übermittelt und ins Modell gefüttert werden – schliesslich könnten Wasser-, Gas- und Stromleitungen das Ziel von Terrorangriffen sein.
Da das Resilienz-Quantifikations-Modell so komplex ist, gibt es viele Stellschrauben, die noch justiert werden müssen. «Erst wenn es auf Herz und Nieren geprüft ist, wird es dereinst das Vertrauen von Regierungen geniessen können», sagt Stojadinovic.
Das Schweizer Modell zur Erdbebengefährdung und die kürzlich vorgestellte Erdbebenrisikokarte haben für die Entwicklung jeweils mehrere Jahrzehnte benötigt. «Entsprechend wird es wohl noch 10 bis 20 Jahre dauern», sagt Stojadinovic, «bis wir ein einsatzfähiges Resilienz-Quantifikations-Modell für die Schweiz präsentieren können.»
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