Brief aus Frankreich«Wer wird eines Tages über diese Tragödie berichten können?»
Die Corona-Krise bringt unsere Gesundheitssysteme an ihre Grenzen. Das hätte man verhindern können – zumindest in Frankreich, sagt der Starsoziologe Didier Eribon.

Ich habe schreckliche Bilder auf meinem Handy gefunden: An dem Eingangsgitter eines grossen Pariser Krankenhauses ganz in meiner Nähe hingen Schriftbänder, auf denen das Pflegepersonal seine Wut herausschrie. Dort stand zum Beispiel: «Rettet die öffentlichen Krankenhäuser» oder auch «Krankenhaus = Lebenswichtig».
Das waren keine alten Fotos. Ich habe sie erst kürzlich gemacht, am 14. Februar 2020. Wenn ich weiter im Handy zurückscrolle, finde ich noch mehr Bilder, aufgenommen in den letzten zwei Jahren: ähnliche Fotos mit den gleichen Schriftbändern. Sie tauchten vor allen Krankenhäusern auf, in allen Städten, im ganzen Land. Anfang 2020 wollten über 1000 Krankenhausärzte nicht mehr länger absurde und gefährliche Entscheidungen mittragen, welche von der Regierung im Namen der «wirtschaftlichen Vernunft» getroffen wurden.
Bei der Pressekonferenz sprach eine Pflegedienstleiterin an einem der wichtigsten Krankenhäuser Frankreichs von einem «Albtraum»: «Der Albtraum begann vor zwei Jahren», sagte sie (das heisst nach der Wahl Macrons zum Präsidenten der Republik). Und fügte hinzu: «Davor konnte ich mich der Behandlung widmen, jetzt muss ich Excel-Tabellen ausfüllen, um nachzuweisen, dass ich die erlaubten Budgets nicht überschreite. Denn das Ziel der Regierung ist nicht die bestmögliche Versorgung, sondern Kostensenkung mit allen möglichen (und unmöglichen) Mitteln.»
Abbau um jeden Preis
Wenn man nach wenigen Jahren das Gesamtergebnis der politischen Massnahmen bilanziert, die die neoliberalen Technokraten als «notwendige Modernisierung» bezeichnen, kann man hier eine – noch bei weitem unvollständige! – Liste aufstellen: Abbau des Arbeitsrechts, d.h. der Rechte von Arbeitnehmern, gravierende Einschränkungen der Rechte von Arbeitslosen, eine allgemeine Prekarisierung, Privatisierungen staatlicher Unternehmen, systematischer Abbau staatlicher Leistungen, eine Besessenheit von «Rentabilität» in Bereichen, in denen sie keine Rolle spielen sollte.
Und was war das Resultat? Mit der Covid-19-Epidemie waren die Krankenhäuser überfordert. Zu wenige Betten, zu wenige Ärzte, zu wenige Krankenschwestern. Es gibt nicht genug Schutzausrüstung, nicht genug Masken, nicht genug Kittel (einige Krankenschwestern haben in den sozialen Medien Fotos gepostet, wo sie Müllsäcke zurechtschnitten, um sich daraus Kittel zu machen). Und, siehe da, die gleichen «Reformen» haben die gleiche Situation hervorgebracht in Spanien, Italien, Grossbritannien.
«Unrealistisch», «demagogisch», «populistisch»
In den letzten Tagen wurde ein Video in den sozialen Netzwerken geteilt. Während der Kampagne zur Präsidentschaftswahl im April 2017 erklärt Jean-Luc Mélenchon mit spürbarer Empörung, dass der geplante Abbau der Krankenhäuser und des Gesundheitswesens verheerende und kaum absehbare Folgen hätte, falls eine grosse Epidemie aufkommen sollte. Das, was er vor drei Jahren mit Besorgnis beschrieb, ist exakt das, was heute passiert. Aber die Mainstream-Medien haben diesen Kandidaten hartnäckig bekämpft. Sie haben seine Äusserungen als «unrealistisch», «demagogisch», «populistisch», «ewig gestrig», «überzogen» diffamiert (und etliches mehr). Und sie haben natürlich denjenigen Kandidaten bejubelt und gefördert, der dank ihrer enthusiastischen Unterstützung am Ende auch gewählt wurde: den «jungen» und «modernen» Kandidaten.
Worin bestand die «Modernität» und die «Reformbereitschaft» des Macronismus? Es war die alte reaktionäre Ideologie des «persönlichen Erfolgs» und die Feindseligkeit gegenüber jeder gesellschaftlichen Solidarität. Später hat Macron seine «philosophische» Vision der sozialen Welt, d.h. seine Klassenverachtung, auf den Punkt gebracht, als er es wagte, die Gesellschaft in zwei Kategorien einzuteilen: in «die, die es schaffen», und «die, die nichts sind».
Homeoffice als Privileg
Heute erweisen sich die, «die nichts sind», gerade als diejenigen, mit deren Hilfe die Gesellschaft weiterfunktionieren kann: die Bus- und U-Bahn-Fahrer, die Kassiererinnen, die Putzfrauen, die Müllmänner, die Strassenfeger, die Paketzusteller und so viele andere, die jeden Tag arbeiten (wobei sie ihre Gesundheit und sogar ihr Leben gefährden. Aber sie haben keine Wahl, wenn sie ihre Arbeitsstelle und ihr geringes Gehalt behalten wollen). Wir müssen uns bewusst machen, dass es ein Privileg ist, in seiner Wohnung oder seinem Haus abgeschottet zu sein.

Zum Schluss würde ich gerne etwas sagen über die alten Menschen, die in diesem Moment in grosser Zahl in den Altersheimen sterben. In der Theateraufführung, die Thomas Ostermeier auf der Grundlage meines Buchs «Rückkehr nach Reims» inszeniert hat, sieht man einige Minuten lang ein Video, in dem ich im Gespräch bin mit meiner Mutter. Kurz nach der Aufzeichnung dieses Videos ist meine Mutter in ein Pflegeheim gezogen.
Als ich am Telefon mit ihr sprach, klang ihre Stimme ängstlich und verzweifelt: Man kümmere sich nicht gut um sie, sie könne nicht duschen. Ich telefonierte mit der Ärztin der Einrichtung. Sie antwortete mir, dass man, um meiner Mutter beim Aufstehen zu helfen, zwei Pfleger brauche, zwei Männer. Und da es nicht genügend Personal gebe, sei das Duschen nur einmal in der Woche möglich. Meine Mutter fühlte sich nicht nur vereinsamt und im Stich gelassen, sondern zudem auch misshandelt und aus der Gesellschaft verbannt.
Sie weinte. Sie überliess sich dem Sterben. Anderthalb Monate nach ihrem Eintritt in das Pflegeheim war es vorbei.
Keine Möglichkeit, die Stimme zu erheben
Altersheime sind wie Krankenhäuser: Orte, an denen Wirtschaftlichkeit und Budgetfragen Vorrang haben vor dem Wohlergehen derer, die dort aufgenommen werden. Und man bringt den Menschen nicht genug Aufmerksamkeit entgegen. Doch sie haben keine Möglichkeit, kollektiv zu protestieren, ihre Stimme zu erheben, ihre Rechte einzufordern.
Nach dem Tod meiner Mutter habe ich begonnen, einen zweiten Band von «Rückkehr nach Reims» zu schreiben. Ich schreibe dort über das Alter und über die Art und Weise, wie unsere Gesellschaft alte Menschen behandelt oder besser misshandelt. Ich habe es mir, genauer gesagt, zur Aufgabe gemacht, all denjenigen eine Stimme zu geben, die nicht sprechen können oder deren Worte nicht bis in die öffentliche Sphäre vordringen. Ich wollte das Projekt von Simone de Beauvoir aufgreifen, die all diese Fragen schon 1970 aufgeworfen hatte in ihrem schönen und wichtigen Buch «Das Alter».
Es gibt nichts, jeder steckt jeden an
Heute lese ich in den Zeitungen, dass in den Altersheimen alte Menschen zu Hunderten, zu Tausenden umkommen. Die alten Menschen haben keine Masken. Es gibt keine Desinfektionsmittel. Es gibt nichts. Jeder steckt jeden an. Was denken, was fühlen all diese gebrechlichen, verletzlichen, invaliden, abgeschotteten, verängstigten Menschen in ihren kleinen Zimmern, in denen sie nicht einmal mehr Besuch empfangen dürfen? Wer wird eines Tages darüber berichten können? Über diese Tragödie?
Was ich zumindest versuchen möchte, ist, das Weinen meiner Mutter hörbar zu machen. Es hörbar zu machen gegen die neoliberale Technokratie und gegen die extreme Gewalt, die sie ausübt auf unsere Körper, unsere Leben und ganz besonders auf die Gesundheit, die Körper und die Leben der Schwächsten, der am meisten Benachteiligten, der Ärmsten, der Ältesten. Und im Nachhall ihrer Stimme, die gestern erstickt wurde und die heute für immer verschwunden ist, die Stimmen all derer hörbar zu machen, die Opfer sind eines Systems, in dem der Profit mehr zählt, als das Leben.
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