Wilder Künstler, ängstliche Spiesser
In «Malaga» von Lukas Bärfuss lässt die Freiheit des Künstlers das bürgerliche Sicherheitsdenken kentern. Das Theater Kanton Zürich bringt die Offenheit des Stückes genau auf den Punkt.

Ein Paar kurz vor der Scheidung, er ist schon ausgezogen. Ein Vaterwochenende steht bevor. Aber er will an einen Kongress in Innsbruck und sie nach Malaga. Und zwar mit Paul, ihrem neuen Freund, der auch schon im früheren Ehebett schläft. «In unserem Bett», sagt Michael (Andreas Storm). «Es ist nicht mehr dein Bett», sagt Vera (Simone Stahlecker). Rebecca, die gemeinsame Tochter, ist sieben.
Und die Babysitterin, die bei dieser Lage der Dinge gewöhnlich einspringt, ist krank.«Malaga», das 2010 uraufgeführte Schauspiel von Lukas Bärfuss, beginnt mit einem Seilziehen. Wer kümmert sich um die Tochter, das Überbleibsel ihrer verblichenen Leidenschaft? Beide haben ihre eigenen Interessen, die sie nun – «endlich» – ausleben möchten.
Der rasante Dialog, den Bärfuss den beiden Figuren in den Mund legt, ist voll von Phrasen und Gründen, die sehr, sehr vernünftig und nachvollziehbar scheinen. Und doch wird man den Eindruck nicht los, dass es eigentlich immer um etwas ganz anderes geht und man nichts von dem, was hier gesagt wird, wörtlich nehmen sollte. Schneidend die Logik der Frau, die doch im Grunde hilflos ist, lächerlich die Versuche des Mannes, sich die entglittene Macht zurückzuholen.
Die Statistik warnt vor Alex
In das Gefecht um eine verflossene Liebe mit ihren unerfüllt gebliebenen Wünschen dringt nun ein Fremdkörper ein: Alex, der 19-jährige Nachbarssohn, den Vera als Ersatz für die kranke Babysitterin organisiert hat (Nicolas Batthyany). Dass ihr Michael dafür nicht dankbar ist, sei typisch für ihn, findet Vera mit Bitterkeit.
In der Tat, Michael macht Vorbehalte geltend. Steigende Jugendkriminalität, zunehmender Tablettenkonsum, generell wachsende Unzuverlässigkeit, warnt die Statistik, sagt Michael. Dazu die Tatsache, dass sich Alex überhaupt für Rebecca interessiert, für ein Kind: kein gutes Zeichen. Eigentlich müsste er sechsmal am Tag onanieren, altersgerechte Interessen wären Alkohol und laute Musik.
Das ist alles drastisch zugespitzt, aber im Grunde sind es Vorbehalte, die wir alle haben müssten, würden wir die subtilen Normierungs-Kampagnen ernst nehmen, die Tag für Tag auf uns niederregnen.
Kann man Alex trauen? Alex muss zum Vorstellungsgespräch, zuerst bei Vera, dann bei Michael. Hier der coole Alex, Prototyp des Künstlers, der bald zum Filmstudium nach New York geht. Dort Mama und Papa, die Spiesser mit ihrem Bedürfnis nach Sicherheit (»nicht zum See», «kein Alkohol», «Rebecca geht um neun ins Bett», «schaffst du das?»). Es sind Klischees, aus denen Bärfuss seine Figuren baut. Aber sie funktionieren, denn er baut sie so zusammen, dass alles zu schweben beginnt.
Wir bleiben auf Distanz und sind doch betroffen, weil etwas darin das Leben in der Wohlstandsgesellschaft ins Mark trifft. Die Konfrontationen mit Alex sind die stärksten Szenen des Stücks und auch in dieser Inszenierung, nicht zuletzt dank der souveränen Präsenz, die Nicolas Batthyany seiner Figur verleiht und die für die Freiheit steht, die, wenn sie realisiert würde, ein anderes Leben ergäbe als diese kleinräumige Existenz, die sich für ein Genuss-Wochenende nach «Malaga» oder in die monströse Wichtigkeit von «Innsbruck» flüchten muss, um sich ein wenig lebendig zu fühlen.
Mehrdeutig bis zum Schluss
Alex bekommt den Job und holt nebenbei auch noch ein mehr als doppelt so hohes Honorar heraus. Schnitt – am Sonntagabend liegt Rebecca im Spital. Über das, was dazwischen passiert ist, gibt es nur Andeutungen. Klar ist: Rebecca ist kein unschuldiger «Engel», wie ihre Mutter meint und wie wohl viele ihre Kinder gerne sehen würden.
Der Künstler und das Kind, sie stehen für eine ursprüngliche Regellosigkeit und Unangepasstheit und bringen damit die Titanic des Sicherheitsdenkens zum Kentern. Dazu, als Intermezzi zwischen den Szenen, die eindringlichen Kommentare von Omri Ziegele auf seinem Saxophon. Sie sind ein mehrdeutiges Symbol: Der Jazz, diese nach Rausch und Selbstverwirklichung strebende Kunstform, die fragwürdig und schillernd bleibt, gerade wenn man sie ernst nimmt.
In der Inszenierung des Theaters Kanton Zürich im Theater Winterthur (Regie: Tilo Nest, Bühne: Monika Frenz) steht auf der intimen Hinterbühne eine weitere Bühne in Form eines niedrigen weissen Podests, das den Spielcharakter verdeutlicht. Der Raum darum herum ist schwarz, hoch und leer. Und diese Offenheit bringt die entscheidende Qualität dieses Stückes, das wie eine hingeworfende Skizze wirkt, mit ausgezeichneten Darstellern genau auf den Punkt.
Obwohl es auf Allgemeinplätze baut, behält es diese Offenheit bis zum Schluss bei. Weder erfahren wir, was sich am Wochenende genau abgespielt hat, noch ergibt das gesamte Geschehen zum Schluss hin einen eindeutigen Sinn, von einem moralischen Urteil ganz zu schweigen. Jeder, der das Stück gesehen hat, wird die Fragen, die es stellt, anders beantworten. Alex, voreilig zum Täter erklärt, dreht im abrupt wirkenden Ende auf und zeigt das gewalttätige Potential, das auch in ihm steckt. Ein Ende, das provoziert und zum Nachdenken herausfordert.
Weitere Aufführungen im Theater Winterthur am 4. und 5. April.
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