Kolumne «Tribüne»Winterthurs erste Laternen
In den Städten könnte es bald dunkler werden. Der «Landbote»-Kolumnist zeigt auf, wie Probleme einst verhindert wurden, als es noch keine Beleuchtung gab.

In den Städten Westeuropas wird es dunkler: Vielerorts haben die Stadtregierungen beschlossen, öffentliche Gebäude nachts nicht mehr zu beleuchten, um Strom zu sparen. Nun sind Rathäuser bis auf prachtvolle Altbauten meist keine so bedeutenden Herrschaftssitze, dass sie ganze Nächte lang angestrahlt werden müssten. Aber das Berner Münster, das Heidelberger Schloss oder der Schiefe Turm von Pisa ohne abendliche Illumination – das werden wir vermissen. Viele Städte gehen noch weiter: Da und dort wird jede zweite Strassenlaterne abgestellt oder mit Bewegungsmeldern versehen, die nur noch anspringen, wenn fussläufiger oder Autoverkehr herrscht. Auch die Megascheinwerfer von Fussballstadien sollen gedimmt werden, Lichterketten auf Weihnachtsmärkten nicht mehr aufgehängt, taghell bestrahlte Prachtboulevards in zartes Dämmerlicht versetzt werden.
Jedermann, der sich durch die dunklen Gassen bewegte, war verpflichtet, eine angezündete Laterne bei sich zu tragen.
Naturschützer rühmen das Abschalten im Interesse der durch Intensivlandwirtschaft und Landschaftsverödung ohnehin bedrohten Insekten. Bislang sterben Jahr für Jahr Milliarden von Insekten im gleissenden Licht der Städte – zum Nachteil der Vogelwelt, deren Nahrung die Insekten sein sollten. Die Energieverantwortlichen preisen den erheblichen Einspareffekt des grossen Abschaltens. Kritische Stimmen beklagen dagegen den Verlust von Sicherheit: In düsteren Ecken geschähen leichter Verbrechen, vor allem gegen Frauen. Andere lehnen solche «Licht aus!»-Aktionen als zeitgeistgetriebene Panikmache von Politik und Medien rundherum ab. Die Debatte zeigt allemal, wie sehr sich westliche Wohlstandsgesellschaften an allzeit verfügbares Licht gewöhnt haben. Dabei ist die beleuchtete Stadt eine noch sehr junge Errungenschaft: Winterthur beispielsweise hängte 1821 im Zentrum die ersten 19 Öllaternen auf. Erst 1860 wurde die Beleuchtung auf Gaslaternen umgestellt, Ende des Jahrhunderts dann auf Elektrizität.
Bis zur flächendeckenden Strassenbeleuchtung galten in europäischen Altstädten nachts strikte Regeln: Danach war jedermann, der sich durch die dunklen Gassen bewegte, verpflichtet, eine angezündete Laterne bei sich zu tragen. So sollten Zusammenstösse im Dunkeln vermieden werden. Ausserdem sollten die Lichter einer weiteren Gefahrenquelle vorbeugen: Es war damals zwar verboten, aber üblich, den gefüllten Nachttopf aus dem Fenster auf die dunkle Gasse zu schütten. Lief unten ein Lichtlein vorbei, musste der Nachttopf warten. Aber das klappte nicht immer.
Tobias Engelsing leitet die städtischen Museen Konstanz und schreibt die Kolumne «Tribüne» im Wechsel mit anderen Gastautoren.
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