Psychiatrische Spitex in Winterthur«Wir zeigen den Menschen, dass ihre Gefühle nicht alienhaft sind»
Die Geps pflegt psychisch kranke Menschen zu Hause. Der Bedarf daran steigt. Marianne Bänninger und Stefan Luzi fordern deshalb Massnahmen gegen Einsamkeit von der Stadt.

Die Hälfte der Bevölkerung erlebt in ihrem Leben eine psychische Beeinträchtigung, so die Organisation Pro Mente Sana. Gleichzeitig wird die Pflege zu Hause, direkt bei den Patientinnen und Patienten, immer beliebter. Beide Entwicklungen haben sich seit der Pandemie verstärkt. Die Winterthurer Organisation Geps (kurz für Gemeindepsychiatrie) ist deshalb gefragter denn je. Sie bietet in Winterthur ambulante psychiatrische und psychosoziale Pflege zu Hause an.
Obwohl auch die Integrierte Psychiatrie Winterthur und seit letztem Jahr die städtische Spitex ambulante psychiatrische Pflege anbieten, hat die Geps mehr als genug zu tun. «Seit der Gründung 2003 ist der Bedarf jedes Jahr gestiegen», sagt Mitgründerin und Partnerin Marianne Bänninger. Auch dieses Jahr: «Seit Januar haben die Anmeldungen extrem angezogen», sagt Geps-Partner Stefan Luzi. Bänninger hatte kürzlich zwei Wochen Telefondienst und bestätigt, sie habe währenddessen «bestimmt 15 Anmeldungen» erhalten. Zum Vergleich: Letztes Jahr behandelte die Geps insgesamt 295 Personen. Hält die momentane Anmeldequote an, wären es dieses Jahr 360 Personen – gut 20 Prozent mehr. Die Geps hat wegen der zunehmenden Nachfrage kürzlich ihr Team von neun auf zehn freiberufliche Pflegefachpersonen aufgestockt.
Patienten werden zu früh aus Kliniken entlassen
Viele psychiatrische Kliniken würden seit der Pandemie überrannt, so Stefan Luzi. «Wir in der ambulanten Pflege spüren jetzt die Nachlasten davon.» Die Geps fange viele Menschen auf, die während Corona «aus der Spur geraten» seien, etwa ihren Job verloren hätten. Marianne Bänninger sagt: «Eine Krise kommt meist dann, wenn das zusammenbricht, was man vorher noch knapp aufrechterhalten konnte.» Umso grösser sei dann die Scham, «aus dem System zu fallen».
Laut Luzi zeigt der Trend zudem seit Jahren von der stationären zur ambulanten Pflege. «Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken dauerten früher auch mal sechs Monate. Nun werden sie immer kürzer. Der Austritt steht ab dem ersten Tag im Fokus.» Corona habe dies noch verstärkt, da der Bedarf die Anzahl Klinikplätze immer mehr übersteige. Lange Aufenthalte seien zwar nicht per se besser, so Luzi, da sie die Menschen auch lange vom Alltag weghielten. «Die Patientinnen und Patienten werden heute aber tendenziell zu früh entlassen. Sie sind teilweise noch in einem instabilen Zustand und weniger gut auf die Rückkehr in ihr normales Leben vorbereitet.»
«Wir wollen keine Abhängigkeiten schaffen.»
Auch sei die ambulante Pflege volkswirtschaftlich gesehen günstiger als die stationäre, so Luzi. Die Geps wird von den Krankenkassen und der Stadt Winterthur momentan je etwa zur Hälfte finanziert. Die Stadt übernimmt, was die Kassen nach Abzug der Selbstbeteiligung nicht decken.
Günstiger ist die Pflege zu Hause vor allem aus einem Grund: «Wir stellen nicht rund um die Uhr Fachpersonal zur Verfügung, sondern besuchen die Leute gezielt zu Hause», so Luzi. Anfangs intensiv, sprich ein- bis zweimal pro Woche. Dann in Absprache mit der zuweisenden Fachperson immer seltener, bis zu einmal alle zwei Monate. «Nach einer Krise sind die Besuche manchmal präventiv, um weitere Krisen zu verhindern», so Luzi. Sobald sinnvoll, werden die Leute auf den Abschluss vorbereitet. «Wir wollen keine Abhängigkeiten schaffen», sagt Luzi. Das Ziel sei nach dem Credo «Hilfe zur Selbsthilfe» immer, dass die Leute wieder ohne Hausbesuche zurechtkämen.
Konstante Betreuung schafft Vertrauen
Die Unterstützung geht von Hilfe für einen geregelten Tagesablauf über Haushaltsführung und Administratives bis hin zur Freizeitgestaltung, so Marianne Bänninger. Sie habe teilweise 22-jährige Patientinnen und Patienten, die nur einmal alle 24 Stunden das Haus verliessen. Stefan Luzi erzählt von Leuten in Kaderpositionen, die wegen einer Angststörung ihre Post nicht mehr öffnen. Oder von Menschen, die nicht mehr einkaufen gehen können. Wie hilft man diesen? «Expositionstraining», sagt er. Sprich: sich der Angst stellen, indem die Aufgabe auf Teilschritte aufgeteilt wird. «Zuerst gehen wir zusammen einkaufen, dann bringe ich sie bis zum Eingang, und dann gehen sie allein, und wir besprechen, wie es gelaufen ist.» Wichtig sei es zudem, zu verstehen, wie die Angst funktioniert.
Dank der Vertrauensbeziehung seien manchmal Ziele erreichbar, die selbst langjährige Behandelnde erstaunten, sagt Marianne Bänninger. «Viele Leute haben niemanden, der ihnen näher kommt als wir. Und im Gegensatz zur Klinik haben sie es bei uns immer mit derselben Person zu tun.» Luzi ergänzt: «Das Vertrauen kommt auch daher, dass wir daran glauben, dass psychische Erkrankungen jede und jeden treffen können. Wir zeigen unseren Patientinnen und Patienten, dass ihre Gefühle nicht alienhaft sind, sondern dass das Leben wirklich schwierig sein kann.»
Verunsicherung und Misstrauen bei jungen Erwachsenen
Am stärksten verbreitet seien Depressionen, Angststörungen und Traumata, sagt Marianne Bänninger – oft verbunden mit Missbrauch von Alkohol, Drogen oder Medikamenten. Vertreten seien alle Altersgruppen. «Generell haben wir aber mehr jüngere Patientinnen und Patienten», so Bänninger. Die Geps nimmt sie ab 18 Jahren auf. Gerade die Jüngeren seien durch gesellschaftspolitische Themen stark verunsichert, so Luzi. Dazu komme ein grosses Misstrauen gegenüber Staat und Medien. «Die Klimakrise, der Krieg in der Ukraine und die Unsicherheit um die Altersvorsorge beschäftigen die jungen Erwachsenen sehr.» Viele würden sich fragen: Wozu arbeite ich eigentlich? Ist meine AHV sicher? Hat das alles überhaupt einen Sinn?
Laut Luzi steht dahinter die Grundsatzfrage, was man leisten muss, um ein funktionierender Teil der Gesellschaft zu bleiben: «Ist man nur ‹nützlich›, wenn man 100 Prozent arbeitet und brav Steuern und AHV zahlt? Ist es nicht auch nützlich, dafür zu sorgen, psychisch gesund zu bleiben? Oder muss man sich mit Ach und Krach zwingen, in einem System zu funktionieren, und dafür einen hohen gesundheitlichen Preis zahlen? Und wer entscheidet, was nützlich ist?»
«Ich frage mich manchmal, ob wir nicht auch Symptombekämpfung betreiben.»
Solche Sinnfragen stelle er sich auch selbst, so Luzi. Er finde seinen Beruf zwar sinnvoll. «Ich frage mich aber manchmal, ob wir nicht auch Symptombekämpfung betreiben. Denn verursacht werden psychische Probleme auch von gesellschaftlichen Problemen, die gesellschaftliche Lösungen brauchen. Zum Beispiel der hohe Leistungsdruck.»
Stadt Winterthur soll aktiv werden
Luzi fordert, die Stadt Winterthur solle bei Entscheiden mehr auf die psychische Gesundheit achten. «Gerade das Thema Einsamkeit muss stärker bedacht werden.» Dafür könne die Stadt etwa genossenschaftliche Wohnbauten fördern, wo die Bewohnenden niederschwellig mit Menschen in Kontakt kämen. Denn: «Im digitalen Zeitalter gibt es immer weniger Übungsfelder im Alltag, in denen Augenkontakt nötig ist», so Luzi.
Konkret erwähnt er in Winterthur etwa den Rückgabeautomaten der Stadtbibliothek oder die personallose 24-Stunden-Migros in Neuhegi. «Das ist zwar effizient. Aber es wird vergessen, wie wichtig ein einfaches ‹Grüezi› an der Kasse für einen Menschen sein kann. Vielleicht ist es die einzige Konversation, die er oder sie an diesem Tag führt.»
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